Torte mit Staebchen
»Das wollte ich Sie immer schon mal fragen, Frau Schwab. Ist das Klima wirklich so schlimm, wie es immer heißt. Dass alles schimmelt und so?«
Bisher war die Unterhaltung ja ganz aufschlussreich gewesen, fand Inge, aber jetzt kam wieder dieser Hausfrauenkram. Das würde sie sich nicht antun, zumal es draußen bestimmt Interessantes zu sehen gab. Ausnahmsweise hatte sie den Rat ihrer Mutter befolgt (»Iss, Kind, wer weiß, was noch kommt«) und sich heute für das »English Breakfast« entschieden. Jetzt tupfte sie mit einem Toast den letzten Rest Eigelb vom Teller und legte das Besteck weg. Für Max, den sie regelmäßig mit durchfütterte, packte sie zum letzten Mal eine Wurst in ein aufgeschnittenes Brötchen. Den vorwurfsvollen Blick der Mutter konterte sie mit der Erklärung: »Ich krieg hier immer gleich wieder Hunger, muss die Seeluft sein.«
Sie musste sich unbedingt noch mit Max besprechen, bevor der Ankunftstrubel losging. Adressen tauschen – aber welche? Rüdiger würde sie gewiss nicht vermissen, der konnte ihretwegen in seiner Französischen Konzession verschwinden, aber mit Max wollte sie unbedingt in Verbindung bleiben. Während die Mütter in ein Gespräch über Schimmel- und Ungezieferbekämpfung vertieft waren, rutschte sie stillschweigend von ihrem Stuhl und verließ den Speisesaal.
Max wartete schon an ihrem Stammplatz, weit über die Reling gebeugt wippte er auf den Ballen und sah sich um. Die allgemeine Aufregung hatte ihn erfasst. Auch Inge fühlte unter der soliden Grundlage ihres Frühstücks ein Kribbeln im Bauch.
»Da bist du ja endlich«, begrüßte er sie. »Hab schon befürchtet, dass du das Wichtigste verpasst da oben in deiner Luxusklasse. Der Lotse ist schon an Bord, wir sind bald da.« Die bevorstehenden Ereignisse hielten ihn jedoch nicht davon ab, dankbar in Inges improvisierten Hotdog zu beißen.
Jetzt, wo sie vom breiten Jangtse-Delta in den Huangpu eingebogen waren, wurde der Verkehr auf dem Wasser immer dichter. Majestätisch bahnte sich der »Graf« seinen Weg durch das Gewimmel aus Dschunken, Sampans und den zu Ketten verbundenen Lastkähnen. Diese Boote schienen den Menschen, die sie steuerten, nicht nur als Fortbewegungsmittel zu dienen. Von ihrer erhöhten Warte konnte Inge direkt in ihre Wohn-, Schlaf- und Esszimmer schauen – ein paar Quadratmeter Holzplanken auf Wasserniveau. Ina hatte ihr erklärt, dass der Name auf Chinesisch eigentlich »drei Bretter« bedeutete, und viel mehr waren es auch nicht. Dort stillten Mütter ihre Säuglinge, angebundene Kleinkinder spielten auf Deck, und Hunde kläfften zu Artgenossen auf anderen Booten hinüber, während ausgemergelte Männer das schwimmende Domizil mit einem einzigen Heckruder antrieben. Wettergegerbte Gesichter mit schmalen Augenschlitzen und breiten Wangenknochen lächelten unter spitzen Strohhüten zu ihr hinauf. Zum ersten Malbekam Inge eine Ahnung davon, wie sehr sie unter den Asiaten, die von nun an das Straßenbild bestimmen würden, auffiel mit ihren blonden Zöpfen und blauen Augen. Jetzt konnte sie nachempfinden, wie sich ihre Freundin Ina anfangs in den Straßen Brandenburgs gefühlt haben musste.
»Puh, hier stinkt’s ja ganz schön«, bemerkte Max.
»Kein Wunder, sieh mal, was da alles im Wasser treibt.« Natürlich hatten die schwimmenden Wohnungen weder Mülltonnen noch Toiletten.
Immer mehr Leute erschienen an Deck. Plötzlich entdeckte Inge ihre Eltern in der Menge der Schaulustigen, die sich an der Reling drängten.
»Papa, Mama, hi-er!« Hektisch winkte Inge von ihrem Ausguck herunter. Am Ufer gingen die Gemüsefelder allmählich in dichtere Besiedelung über. Bald darauf erreichten sie Schanghaier Stadtgebiet, und das Bild veränderte sich: Zur Rechten sahen sie zerbombte oder ausgebrannte Häuser, dazwischen Ruinen und Brachflächen.
»Das müssen die Japaner gewesen sein«, dachte Inge laut vor sich hin.
Hafenanlagen kamen in Sicht, dann machte der Fluss einen Knick, von rechts mündete ein Seitenarm, den eine geschwungene Eisenbrücke überspannte. Und wieder tat sich eine völlig neue Welt auf: Prächtige Hochhäuser reihten sich an einer breiten Uferstraße, ein schlanker Turm mit kupfergrünem Spitzdach, behäbige Steinpaläste mit Säulen und Türmchen, vertraute westliche Architektur, nur größer und gewaltiger als alles, was Inge kannte.
»Hier sieht’s aus wie in Amerika.« Nicht dass Inge gewusst hätte, wie es in Amerika aussah; aber das hier entsprach jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher