Torte mit Staebchen
sich dem Takt eines fremden Landes anpassen müssen.
Beim morgendlichen Blick aus dem Bullauge fiel Inge auf, dass das Meer über Nacht die Farbe gewechselt hatte. Aus dem tiefen Blaugrün war ein schlammiges Gelbbraun geworden. Als sie diese Beobachtung beim Frühstück kundtat, schnappte Rüdiger prompt nach dem ausgelegten Köder.
»Wir fahren jetzt bald in den Jangtse ein. Das ist der längste Fluss Chinas. Er durchquert das Land in west-östlicher Richtung fast zur ganzen Länge und bringt dabei viele Sedimente mit, die an der Mündung als Schlamm ins Meer gespült werden.«
Inge musste sich beherrschen, um nicht mit den Augen zu rollen. Lange würde sie Rüdiger, das wandelnde Lexikon, nun nicht mehr ertragen müssen, aber solange sie noch mit ihm an einem Tisch saß, konnte sie ihn ebenso gut ein bisschen aushorchen. Schließlich wohnte er schon seit Jahren in dieser Stadt.
»Und an diesem Fluss liegt Schanghai?«
»Nein, nicht am Jangtse selbst, sondern in dessen Mündungsgebiet. Die Stadt liegt am Huangpu, einem Nebenfluss des Jangtse.«
Jetzt mischte sich auch die Frau Kommerzienrätin in die Unterhaltung ein. »Wo werden Sie denn wohnen, Frau Finkelstein?«, erkundigte sie sich. HerrnFinkelstein ignorierte sie geflissentlich, seit sie ihn als unergiebigen Gesprächspartner erkannt hatte; ihm war das nur recht.
»Wir müssen uns erst einmal orientieren«, erwiderte Inges Mutter ausweichend.
»Eines kann ich Ihnen gleich sagen. Wir Schanghailänder wohnen vorwiegend in der Französischen Konzession.«
Als Rüdiger Frau Finkelsteins verständnisloses Gesicht sah, spulte er sofort die nötige Information herunter: »Schanghai besteht aus verschiedenen Konzessionen oder Vierteln mit unterschiedlicher Verwaltung und Gerichtsbarkeit. In der Internationalen Konzession haben die Engländer und Amerikaner das Sagen.«
Inge, die das alles schon von Ina wusste, beschäftigte eine ganz andere Frage: »Was sind denn Schanghailänder?«, konsultierte sie ihr wandelndes Lexikon.
»So nennen sich Angehörige ausländischer Nationalitäten, die in Schanghai leben«, antwortete Rüdiger. »Wir Deutschen sind innerhalb dieser Community gut organisiert. Es gibt sogar schon eine Ortsgruppe der NSDAP, samt Jugendorganisationen.«
Rasch sah Inge sich nach dem Vater um. Der hatte sich zum Glück mit einer Zeitung in den Rauchsalon verzogen und war außer Hörweite. Frau Schwab war in ein hausfrauliches Gespräch mit Inges Mutter vertieft.
»An der Uferpromenade, dem Bund, befinden sich alle wichtigen Verwaltungsgebäude, Banken, Reedereien und so weiter«, erklärte sie Frau Finkelstein. »Auch das Konsulat des Deutschen Reiches. Und zum Einkaufen geht man am besten in die NankingRoad, aber zum Wohnen ist es dort viel zu unruhig und umtriebig.«
»Die Französische Konzession steht, wie der Name sagt, unter französischer Oberhoheit«, fuhr Rüdiger unbeirrt fort, als ob eine Rille in der Schallplatte seine Ausführungen kurzzeitig unterbrochen hätte, doch nun lief die Nadel wieder: »Und dann gibt es noch den Stadtteil Hongkou, der früher zum Internationalen Settlement gehörte, aber 1932 von den Japanern bombardiert wurde und seither von ihnen besetzt wird.«
»Sag nichts gegen die Japaner«, schaltete sich Frau Schwab ein. »So ein zackiges Volk, man nennt sie auch die Preußen Asiens. Mit diesen Angriffen haben sie uns allerdings ganz schön Angst eingejagt. Erst letzten Sommer haben sie wieder Bomben über der Chinesenstadt abgeworfen. Aber man kann ja nie sicher sein, wo die Dinger runtergehen.«
Plötzlich erinnerte sich Inge, dass diese japanischen Angriffe der Grund gewesen waren, warum ihre Freundin Ina nach Brandenburg in die Obhut einer deutschen Offizierswitwe geschickt worden war. Ina fand die Japaner längst nicht so toll wie Frau Schwab. Sie war immer schrecklich sauer gewesen, wenn man sie in Brandenburg für eine Japanerin gehalten hatte. Jetzt verstand Inge, warum.
»Die Chinesenstadt ist die Altstadt von Schanghai, aber dort wohnen keine Weißen«, schloss Rüdiger seine Ausführungen.
»Wie gesagt, wohnen kann man nur in der Französischen Konzession. Dort sind die Straßen von Platanen gesäumt, und es gibt hübsche Villen im europäischenStil mit großen Gärten und Mauern drum herum. Sonst ist das Klima ja kaum zu ertragen, vor allem in den feuchtheißen Sommern. Außerdem braucht man viel Platz mit all dem Personal.«
Inges Mutter schaltete sich nun ebenfalls in das Gespräch ein.
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