Torte mit Staebchen
nicht ihrer Vorstellung von China. Sie hatte keine Wolkenkratzer erwartet, sondern zierliche Pagoden mit geschwungenen Giebeln, an denen kleine Glöckchen hingen, so wie auf dem Teeservice ihrer Tante. Auch das Wetter passte nicht. Nach den tropischen Temperaturen auf See machte ein frischer Wind sie frösteln. Jetzt war sie froh über den Mantel, der ihr in Genua so lästig gewesen war.
»Das ist der Bund«, rief jemand in der Menge.
Mittlerweile drängten sich so viele Passagiere an der Reling, dass die »Conte Biancamano« zur Stadt hin beinahe Schlagseite bekam, denn nur an einem Flussufer gab es etwas zu sehen, am anderen lagen Felder, Schuppen und Fabrikhallen.
Immer näher schob sich der Ozeanriese an die Kais heran, die den Flusshafen bildeten.
»Toll, dass man hier mit dem Schiff direkt bis vor die Haustür fahren kann«, rief Max begeistert. Offenbar würden sie unmittelbar an dieser Prachtstraße anlegen.
»Bestimmt nicht vor deine Haustür«, dämpfte Inge seine Begeisterung.
»Du weißt schon, wie ich’s meine.«
Als Inge sich vorbeugte, um besser sehen zu können, bemerkte sie von oben, dass mit ihrem Vater etwas nicht stimmte. Er war leichenblass geworden und schob sich langsam rückwärts von der Reling weg durch die Menge der Schaulustigen, dabei starrte er auf einen ganz bestimmten Fleck am Ufer. Als sie seinem entsetzten Blick folgte, entdeckte sie an einemEckhaus des Bund eine große rote Fahne mit schwarzem Hakenkreuz. Auch er musste sie gesehen haben.
»Papa!«, rief sie zu ihm hinunter, doch er hörte nicht.
»Max, ich muss zu meinem Vater.« Damit rannte sie die Treppe hinunter. Auch die Mutter hatte den Vorfall bemerkt und folgte dem Vater Richtung Kabine.
»Willi, warte doch!«
In der Kabine fanden sie ihn. Er saß, den Hut noch immer auf dem Kopf, zusammengesunken im Sessel zwischen den gepackten Koffern. Die Hände hatte er vors Gesicht geschlagen.
»Musste ich um die halbe Welt fahren, um so empfangen zu werden?«, stieß er hervor. »Im Lager haben sie zu mir gesagt: ›Nimm dich in Acht, Finkelstein, unser Arm ist lang.‹ Und ich hatte mir eingebildet, ich könnte ihnen entkommen.«
»Aber Willi, das wird das Deutsche Konsulat sein. Du bist doch ein freier Mann. Was können die dir hier anhaben?«
Frau Finkelstein versuchte verzweifelt, ihren Mann zu beruhigen. Jetzt, wo die Landung unmittelbar bevorstand, weigerte er sich womöglich, auszusteigen. Inge stand hilflos daneben. Das Meer war also doch nicht groß genug gewesen. Die »Mensch-ärgere-dichnicht«-Partie fiel ihr wieder ein, und plötzlich wusste sie, wie sie ihn trösten konnte: »Lass dich von denen nicht noch mal rausschmeißen, Papa. Denk dran, neues Spiel, neues Glück.«
Wilhelm Finkelstein sah seine Tochter einen Moment lang verständnislos an. Dann lösten sich seine erstarrten Gesichtszüge zum Ansatz eines Lächelns.
Wieder einmal war es Paolo, der die Situation rettete: »Signora, Signor. Fertigmachen zum Landgang! Ist Ihne nicht gut, Signor Finkelstein? Soll ich Rollestuhl holen?«
Angesichts dieser Drohung riss der Vater sich zusammen und stemmte sich aus dem Sessel, während Paolo sich die Koffer schnappte. Wie schon in Genua zuckte er kurz unter dem Gewicht, ließ sich aber nichts anmerken.
»Was ich sehen, Signorina? Keine Abzeichen von unsere wunderbare Schiff auf Ihre Koffer? Ich hoffen, Sie werden denken gerne an uns.« Rasch zog er ein paar der begehrten Aufkleber aus der Tasche seiner blütenweißen Uniformjacke und überreichte sie Inge, die schuldbewusst den Kopf senkte. Sie hatten alle Aufkleber unterwegs bei den Hafenhändlern gegen Essbares eingetauscht. Ach, Paolo, wenn du wüsstest, wie ich dich vermissen werde. Aber das sagte sie natürlich nicht laut, sondern machte nur stumm einen verschämten Knicks – als Dank und zum Abschied.
Die Passagiere der ersten Klasse durften auch als Erste an Land gehen, und zwar über eine Treppe, die an das Schiff herangerollt worden war und ihnen den Kontakt mit den Massen auf den unteren Decks ersparen sollte. Über dieses Privileg war Inge gar nicht glücklich. Wegen der Aufregung um den Vater hatte sie Max völlig aus den Augen verloren, und jetzt war es zu spät, um etwas auszumachen. Sie drehte sich beim Hinuntersteigen immer wieder um, konnte ihn zwischen all den Köpfen jedoch nirgends entdecken. Stattdessen sah sie unter sich plötzlich die Finkelstein’schen Koffer, wie sie an der Tragestange eines chinesischen Kulis baumelnd
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