Torte mit Staebchen
Essensausgabe bestand aus Tee und einer Scheibe Weißbrot. Inges Vater blickte stumm auf das schwammige Etwas, das unter seinen Fingern zerbröselte. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Jetzt war auch für den Konditormeister die Schmerzgrenze erreicht. Als sie außer Hörweite anderer Heiminsassen waren, sagte er zu seiner Frau: »Ich will ja nicht undankbar sein, aber das ist ein Grund mehr, zu dieser Beratungsstelle zu gehen.«
Mutter und Tochter tauschten einen wissenden Blick. Es war das erste Mal seit seiner Rückkehr aus dem Lager, dass Wilhelm Finkelstein Unternehmungsgeist zeigte. Vielleicht hat es ja damit zu tun, dass seine Haare langsam nachwachsen, überlegte Inge.
Nachdem die drei sich gestärkt hatten, traten sie auf die Straße hinaus. Man hatte ihnen erklärt, sie müssten nur der Ward Road folgen, die später in die Seward Road übergehe, irgendwann kämen sie dann an den Soochow Creek. Wenn sie sich dort rechts hielten, könnten sie das riesige Apartmenthaus mit dem Eckturm nicht verfehlen. In eine Rikscha zu steigen trauten sie sich nicht. Mit den frisch getauschten, schmuddeligen Geldscheinen musste sparsam umgegangen werden. Außerdem wäre es peinlich gewesen, wenn ein einziger schmächtiger Chinese sie alle drei hätte ziehen müssen.
Inge war das nur recht. Nachdem sie auf ihrer ersten Fahrt die neue Welt von oben betrachtet hatte, steckte sie jetzt mittendrin im Geschehen. Und an Geschiebe und Gedränge mangelte es hier nicht. Die Straße war offensichtlich nicht nur zur Fortbewegung da, sie diente auch als Verkaufsfläche, Garküche, Wohnzimmer, Werkstatt, Spielplatz und Esslokal. Entsprechend schwierig war das Vorwärtskommen.
»Was ist denn los? Haben die heute einen Feiertag?«
»Ich fürchte, das ist hier immer so«, entgegnete ihr Vater.
Durch dieses Getümmel schoben sich nun auch die Finkelsteins – oder besser, sie wurden geschoben. Einen Moment lang versuchte Inge, ihre kleine Schar von außen zu betrachten, so wie die Chinesen sie sahen: Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit Hut und schwarzem Anzug; eine hübsche, rundliche Frau mit hellbraunem dauergewelltem Haar, die sich ein weißes Batisttüchlein an die Nase presste und ihreHandtasche fest umklammert hielt, und ein strohblondes, schlaksiges Mädchen im blauen Wintermantel, das eine Hand in die des Vaters geschoben hatte, um in der Menschenmenge nicht verloren zu gehen.
Inge wurde bald klar, dass sie mit ihren blonden Haaren und hellen Augen eine echte Sensation darstellte. Viele Chinesen blieben stehen, drehten sich nach ihr um und starrten sie hemmungslos an, einige Kinder versuchten sogar, ihre Zöpfe zu berühren. Ständig im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen war ziemlich lästig, aber verständlich in einem Land, wo es nur Schwarzköpfe gab. Wahrscheinlich zweifelten die Leute, dass solche Haare echt waren. Jetzt bin ich diejenige, die einen Hut braucht, überlegte Inge. Aber so leicht würde sie sich den Schneid nicht abkaufen lassen.
»Wie seht ihr denn aus mit euren Schlitzaugen und Mondgesichtern!«, murmelte Inge wie einen Abwehrzauber und starrte genauso hemmungslos zurück. Zu Hause hätte ihr die Mutter das streng verboten, aber die gewohnten Regeln des guten Benehmens waren hier ohnehin außer Kraft gesetzt. Jemanden anzustarren schien durchaus nicht anstößig zu sein. Und zu starren gab es jede Menge. Die Männer trugen statt Mänteln seitlich geknöpfte Gewänder, die fast bis zum Boden reichten; Frauen und Mädchen hatten wattierte Jacken aus buntem Baumwollstoff an, dazu Stoffschuhe oder Holzpantinen. Die Hosen der Allerkleinsten hatten hinten einen Schlitz, der sich als praktisch erwies, wenn sie vor aller Augen in den Rinnstein pinkelten oder ihr Geschäft machten. Puh!Jetzt hätte auch Inge sich am liebsten die Nase zugehalten.
An jeder Ecke hockten zerlumpte Bettler, die ungeniert ihre Verstümmelungen und schwärenden Wunden zur Schau stellten; kein schöner Anblick, aber offenbar die Voraussetzung, um als Bettler konkurrenzfähig zu sein. In unmittelbarer Nachbarschaft brodelten Kochkessel auf tragbaren Herden, brutzelten winzige Fleischspießchen über glühender Holzkohle, garten geheimnisvolle Köstlichkeiten in hübschen Bambuskörbchen. Beim Anblick der appetitlich aufgereihten dampfenden Teigtäschchen und knusprigen Lauchpfannkuchen schoss Inge augenblicklich der Speichel in den Mund. Das war schon eher, was sie sich unter chinesischer Kost vorstellte.
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