Torte mit Staebchen
Sie nahm sich vor, ihre Essstäbchen künftig immer bei sich zu haben.
Dann kamen sie an einer offenen, überdachten Markthalle vorbei, wo Gemüse- und Obststände mit Waren lockten, wie Inge sie noch nie gesehen hatte. All diese Wurzeln, Blattgemüse, Kürbisse, Knollen und Schoten mussten wohl essbar sein, denn chinesische Hausfrauen prüften sie kritisch mit Nase und Fingern und packten sie sich dann unter lautem Feilschen in ihre Netze und Einkaufskörbe. So etwas wäre undenkbar gewesen auf dem Brandenburger Wochenmarkt. Vor der Halle, wo der Betrieb am größten war, hockten Leute auf winzigen Schemelchen und flickten Kleidung, schärften Messer, rasierten ihre Kunden oder schrieben für sie Briefe. Und jeder, der eine Ware oder Dienstleistung anzubieten hatte, versuchte, durch lautes Rufen auf sich aufmerksam zumachen. Das alles spielte sich auf offener Straße ab; nicht einmal Gehsteige gab es, sodass Straßenhändler, Kunden, spielende Kinder und Fußgänger sich die Straße mit Rädern, Rikschas und Lastkarren teilen mussten.
Inge fühlte sich meilenweit entfernt von der westlichen Pracht der Uferpromenade, an der sie gestern angelegt hatten; nun war sie wirklich in China angekommen. Hier lag alles so dicht nebeneinander, dass einem ganz schwindelig wurde: Reichtum und Armut, Leckerbissen und Hungersnot, verlockende Düfte und Gestank, brodelnde Aktivität und lähmende Gebrechen, dazu die vielen, vielen fremden starrenden Gesichter.
Als sie endlich ans Wasser kamen, lichtete sich das Getümmel, man konnte wieder freier atmen. Das musste der Soochow Creek sein, den sie vom Schiff aus gesehen und auf dem Lastwagen überquert hatten. Auch er war nicht einfach ein Flussarm, sondern eine Wasserstraße, auf der Menschen entlangfuhren, wohnten, arbeiteten und Güter transportierten. Weiter hinten wölbte sich die Garden Bridge, die, wie Inge inzwischen wusste, zwei Welten voneinander trennte: Hongkou, wo sich arme Chinesen und europäische Emigranten auf engstem Raum zusammendrängten, und gegenüber das Internationale Viertel und die Franzosenstadt, wo die Häuser und der Luxus schier in den Himmel wuchsen. Und dazwischen wachte der furchterregende japanische Militärposten.
»Das da vorne muss es sein«, sagte Frau Finkelstein und deutete nach rechts, wo ein modernes Wohngebäudegleich den ganzen Straßenzug einnahm. Inge erinnerte es an einen Block Schichtnougat, immer eine helle und eine dunkle Schicht, sie zählte elf Stockwerke.
Sie fuhren mit dem Aufzug in eine der oberen Etagen, die der Hausbesitzer, ein reicher Jude namens Sassoon, dem Jüdischen Hilfskomitee zur Verfügung gestellt hatte. Während die Eltern sich beraten ließen, genoss Inge den weiten Rundblick. (Das mit der Schule würde sie noch früh genug erfahren.) Von hier oben konnte man fast bis dorthin schauen, wo sie gestern angekommen waren. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Ob der »Graf weiße Hand« wohl noch am Kai lag oder längst auf dem Heimweg war? Eines war Inge jedoch klar: Aus diesem Schlamassel würde kein weißer Märchenprinz sie retten.
Wussten die, dass wir kommen?
Januar 1939 – Jahr des Tigers
虎
»Es gibt eine Schule für Emigrantenkinder, die Kadoori School, in der auf Englisch unterrichtet wird«, verkündete Frau Finkelstein ihre Erkenntnisse von der Beratungsstelle, als sie am Abend wieder in der Bettenburg saßen. Schule? Auf Englisch? Inge hielt vor Schreck die Luft an. »Aber wir wollen erst mal abwarten, wie’s weitergeht«, fuhr die Mutter fort. »Hier im Heim bleiben wir jedenfalls keinen Tag länger als nötig. Wir müssen uns möglichst bald auf eigene Füße stellen. Wer weiß, wo wir dann unterkommen. Bis dahin warten wir noch mit deiner Einschulung.« Erleichtertes Aufatmen. Inge zweifelte nicht, dass ihre Mutter diesen Entschluss in die Tat umsetzen würde. Wer seine Familie vor den Nazis gerettet hat, der wird auch im wilden Schanghai Unterschlupf finden.
Damit war die Sache mit der Schule erst mal vom Tisch – vom Koffertisch. Eine Folge der räumlichen Enge war, dass man Inge nicht ins andere Zimmer schicken konnte, wenn »Erwachsenenangelegenheiten« besprochen wurden. Außerdem ließ sich diese fremde Welt nicht in Kinder- und Erwachsenenangelegenheiten unterteilen. Sie war, wie sie war: hart undschonungslos; hier wurden keine Rücksichten genommen. Seit Inge in die kostbaren Eingeweide ihrer Gundel geblickt hatte, konnte man ihr ohnehin nichts mehr vormachen.
Gespannt hörte
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