Torte mit Staebchen
gern Inge den Altersunterschied zwischen ihnen verringern würde.
»Na prima, dann bin ich jetzt elf«, rief Inge erfreut und schielte erwartungsvoll auf das Paket, das ziemlich groß und sperrig war. Dann sah sie Sanmao fragend an.
Der verstand sofort: »Du darfst es gleich aufmachen.«
Inge ließ sich das nicht zweimal sagen. Ungeduldig riss sie das rote Papier auf und fand darin eine schwarze Hose mit schmal geschnittenen Beinen und eine indigoblaue wattierte Jacke mit raffinierten, aus Stoff geflochtenen Knebelknöpfen. Da war selbst Inge sprachlos. Strahlend hielt sie sich die neuen Sachen an.
»Deine Kleider sehr hübsch, Ying’ge, aber, äh, so unpraktisch.«
Sanmao grinste. »Damit dich in Zukunft die Brennnesseln nicht mehr pieken.« Inge wusste genau, worauf er anspielte, und lächelte ihm verschwörerisch zu.
Still und hochzufrieden setzte sie sich zu Herrn Fiedler an den runden Esstisch, während Mutter und Sohn ihren Kotau vor den Ahnen machten. Der altarartige Tisch mit den Ebenholztafeln, der sonst in der Ecke stand, war in die Zimmermitte gerückt worden, rote Kerzen brannten, und vor den Ahnentafeln standen Teller mit unterschiedlichen Gerichten. Inge konnte Huhn und Fisch identifizieren, das andere war zu klein geschnitten. Alle Gerichte waren mit roten Zetteln versehen. Eine Speisekarte für die Verstorbenen? Davor glommen Räucherstäbchen und erfüllten den Raum mit warmem Sandelholzduft. Offenbar wurden die Speisen auf diesem Weg zu den Toten befördert. Anders als in Deutschland blickte man beim chinesischen Neujahrsfest nicht nur in die Zukunft, sondern gedachte auch vorangegangener Generationen. Vielleicht war es doch ganz gut, dass ihre Eltern nicht mitgekommen waren, überlegte Inge. Wie sollte ein jüdischer Waisenjunge seine Ahnenverehren? Und ihre Mutter lebte ja auch nicht gerade im Einverständnis mit ihrer Familie.
Sanmao und seine Mutter nahmen jeder ein paar Räucherstäbchen in beide Hände und schwenkten sie vor den Tafeln auf und ab, wie Inge das bereits im Tempel gesehen und praktiziert hatte. Anschließend ließen sie sich auf die Knie nieder und verneigten sich dreimal so tief, dass die Stirn den Boden berührte – der Kotau.
Als sie wieder auf den Beinen war, nahm Frau Fiedler Inges Maotai-Flasche und goss je einen Schluck in das Schälchen vor jeder Tafel.
»Jetzt sie kriegen von deine Schnaps.«
»Prosit«, murmelte Inge leise.
Damit war die Zeremonie vorüber; die roten Zettel wurden entfernt und die Platten auf den Esstisch gestellt. Dabei achtete Frühlingserwachen darauf, dass der Fisch mit dem Schwanz zur Tür zeigte.
»Jetzt sind wir dran«, sagte Herr Fiedler und stieß Inge mit dem Ellenbogen an. Dann sprach er mit gefalteten Händen ein kurzes Dankgebet. Auch er war evangelisch.
Endlich bot sich Inge die Gelegenheit, Inas Abschiedsgeschenk, ihre Essstäbchen aus Elfenbein, wirkungsvoll zum Einsatz zu bringen. Unter allseitiger Bewunderung bugsierte sie sich damit in den Mund, was Sanmao ihr formvollendet vorlegte. Er saß neben ihr und hatte für das leibliche Wohl seines Gastes zu sorgen, indem er ihr die besten Stücke in die Schale legte und darauf achtete, dass ihre Teeschale nie leer war.
»Hast du gesehen, wie meine Mutter den Fisch hingestellt hat? Fisch heißt
yú
, ein anderes Zeichen mit der gleichen Aussprache bedeutet ›überflüssiges Geld‹. Das ist ein Sprachspiel, bei dem man hofft, dass im neuen Jahr Geld übrig bleibt.«
»In dieser Kultur dreht sich alles ums Geld«, bemerkte Herr Fiedler.
»Und um Sprache«, fügte Inge hinzu. Sie kannte jetzt schon mehrere solche Sprachspiele mit gleichlautenden Schriftzeichen. So hatte sie sich zum Beispiel immer gewundert, warum ausgerechnet Fledermäuse, die sie für ziemlich gruselige Tiere hielt, überall als Dekoration herumschwirrten. Auf Nachfrage hatte man ihr erklärt, dass sie Glück brächten, weil sie wie
fú
– »Glück« – ausgesprochen wurden. Gleich darauf wurde ein Gericht aufgetragen, dass ebenfalls Gutes fürs neue Jahr versprach: Neujahrskuchen aus Klebreis,
niángāo.
Und weil
gāo
in anderer Schreibweise auch »hoch« heißen konnte, hoffte man darauf, dass im neuen Jahr alles noch »höher« und damit besser werden würde.
Begeistert stopfte Inge diese Glück und Reichtum verheißenden Speisen in sich hinein und fand es genial, dass man durch das Essen leckerer Sachen zugleich seine Zukunftschancen verbessern konnte. Letztlich, so erkannte sie, ging es den
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