Torte mit Staebchen
war, darauf spazieren zu gehen. Hinter verwilderten Bambushainen und ausgewachsenen Hecken taten sich immer neue Überraschungen auf. Alles war üppig und grün – selbst im Winter! Verzaubert von dieser Traumlandschaft stapfte Inge hinter ihrem Führer durchs hüfthohe Gras. Gerade die Verwahrlosung der Parkanlage, der man das ordnende Konzept menschlicher Planung eben noch ansah, gab ihr den besonderen Reiz.
»Das alles hat ein berühmter buddhistischer Mönch zu Beginn des Jahrhunderts angelegt«, erklärte Sanmao,ohne dass Inge extra nachfragen musste. »Hardoon ist nämlich aus Liebe zu seiner Frau zum buddhistischen Glauben übergetreten.« Dieses Thema schien ihn zu interessieren. »Und jetzt zeig ich dir meinen Lieblingsplatz. Aber vorher musst du mir was versprechen, Yatou. Du darfst niemand anderen hierherführen. Das ist nämlich ein ganz besonderer Ort.«
»Großes Indianerehrenwort.« Inge hob drei Finger zum Schwur.
Sanmao sah sie verblüfft an. Wahrscheinlich hatte er, der in Schanghai aufgewachsen war, nie Bücher von Karl May gelesen. Bei was schworen die Chinesen? Doch allein Inges ernsthafte Miene schien ihn zu überzeugen.
»Also, komm mit.« Sie folgten einem von Brennnesseln überwucherten, gerade noch erkennbaren Pfad, der sich auf eine Anhöhe schlängelte. Oben stand ein kleiner offener Tempel, dessen rundes Dach auf weißen, mit Kapitellen verzierten Säulen ruhte. Inge hätte ihn eher ins antike Griechenland als nach China eingeordnet, aber diese Stadt war ohnehin ein einziger architektonischer Mischmasch.
Hinter Sanmao stieg sie drei bröckelnde Stufen hinauf, dann standen sie vor einem Stein mit zweisprachiger Inschrift.
»Das Chinesische kann ich lesen«, sagte Sanmao. »
Ài
heißt ›lieben‹, und
Lì
steht für Lisa, den Namen seiner Frau, für die er den Park hat anlegen lassen. Er heißt deshalb auch Aili-Park, aber die Schanghaier sagen alle
Hatong Huāyuán
.« Andächtig fuhr er mit dem Finger die beiden großen Schriftzeichen nach,die dort eingraviert waren. Dann deutete er auf eine zweite Inschrift. »Weißt du vielleicht, was da steht?«
»Das ist Hebräisch.« Inge erkannte die Schrift sofort. »Ich kann das nicht lesen, aber wahrscheinlich muss ich’s bald lernen, wo ich doch jetzt in diese jüdische Schule soll.«
»Würde mich schon interessieren, was das heißt.«
Inge spürte, dass dieses Monument einer west-östlichen Liebe für Sanmao von besonderer Bedeutung war. Auch ihr Interesse war geweckt, und sie überließ sich dem Zauber dieses verwunschenen Orts.
»Schön hier«, sagte sie an die Balustrade gelehnt, von wo sich der Ausblick über eine Lichtung auftat. Azaleen und Kamelien säumten als wild wuchernde Büsche die Wiese und öffneten erste Knospen in Weiß, Rot und zartem Rosa. »Vielleicht haben die beiden auch hier gestanden, so wie wir jetzt. Wann ist dieser Herr Hardoon eigentlich gestorben?«
»Neunzehnhunderteinunddreißig, da war ich noch ganz klein, aber ich erinnere mich an den großen Trauerzug, der durch die Bubbling Well Road kam. Überall waren große Trauertore errichtet. Er ist in einem Mausoleum hier im Park begraben, aber das liegt in dem Teil, wo wir nicht hinkönnen.«
Sie schlenderten zurück zu ihrem Schlupfloch.
»Ach, beinahe hätte ich’s vergessen. Am Sonntag ist chinesisches Neujahr, da beginnt das Jahr des Hasen. Am Samstag ist unser Silvesterabend. Meine Mutter lässt fragen, ob du mit deinen Eltern zum Abendessen kommen möchtest.«
»Au prima! Danke! Ich sag’s ihnen.«
Zu Hause musste Inge sich wieder mal über ihre Eltern ärgern. Nachdem sie die Einladung der Fiedlers überbracht hatte, fand das Ehepaar Finkelstein alle möglichen Gründe, warum es keine gute Idee sei, diese anzunehmen.
»Herr Fiedler ist mein Arbeitgeber und unser Vermieter«, sagte der Vater, der eben müde aus der Backstube gekommen war. »Ich möchte Privates und Berufliches nicht vermischen.« Offenbar hatte er immer noch daran zu knabbern, nicht mehr sein eigener Herr zu sein.
»Ich habe gehört, dass das chinesische Neujahr ein Familienfest ist wie unser Weihnachten«, gab seine Frau zu bedenken. »Da wollen die doch bestimmt unter sich sein. Am Heiligen Abend geht man ja auch nicht zu fremden Leuten. Und wer weiß, was für sonderbare Sachen es da zu essen gibt.«
»Erstens sind das keine fremden Leute, sondern die Fiedlers, und außerdem würden sie uns ja nicht einladen, wenn sie uns nicht bei sich haben wollten«, stellte
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