Torte mit Staebchen
Chinesen vornehmlich ums gute Essen, auf das selbst Verstorbene und Götter Appetit hatten.
»Und wann knallt ihr?«, fragte sie, als sie pappsatt war.
»Das nimmt man hier nicht so genau«, erklärteHerr Fiedler. »Manche fangen schon mittags damit an, und es geht die ganze Nacht hindurch. Sanmao und ich haben am Nachmittag draußen vor dem Café unsere Schnüre mit Knallfröschen gezündet. Für gute Geschäfte. Und am vierten Neujahrstag geht’s dann noch mal los, da wird der Gott des Reichtums in der Stadt begrüßt.«
Inge war es recht, nicht bis Mitternacht ausharren zu müssen. Der volle Magen ließ auch die Lider immer schwerer werden.
»Dann mach ich mich jetzt wohl besser auf den Weg. Danke, Herr Fiedler, danke, Xiaochun
āyí
, danke, Sanmao. Und alles Gute im Jahr des Hasen!« Dann fügte sie noch hinzu: »
Wànshì rúyì
.« Das bedeutete »Zehntausend Dinge wunschgemäß«, und sollte garantieren, dass alles flutschte im neuen Jahr.
»Sanmao, begleite unseren Gast ins Hinterhaus«, mahnte Herr Fiedler.
Auf der Treppe sagte Sanmao: »Das hat meiner Mutter gefallen, dass du sie mit ›Tante‹ angeredet hast. Woher wusstest du, dass man das hier so macht, auch wenn man nicht verwandt ist?«
»Tja, ich hab eben auch vor dir schon gute Lehrer gehabt. Gute Nacht und
wǎn’ān
.«
Doppelleben
Schanghai 1939 – Jahr des Hasen
兔
»He, Yatou, gehst du wieder Bauklötzchen spielen?«, zog Sanmao Inge anfangs auf, wenn sie sich morgens im ordentlich gebügelten Faltenrock ihrer Schuluniform auf den kurzen Weg in die Jewish Youth Association School machte. Doch der Kindergarten erwies sich als gar nicht so übel.
Die Schule war in einem Nebengebäude der Ohel-Rachel-Synagoge untergebracht. Als Inge das erste Mal vor der imposanten Säulenhalle des riesigen Bethauses stand, das siebenhundert Gläubigen Platz bot, fragte sie sich erneut, wie ihr Erbauer schon um die Jahrhundertwende geahnt haben mochte, dass einst so viele seiner Glaubensbrüder in Schanghai Zuflucht finden würden. Ein zweistöckiger Backsteinbau auf dem Gelände der Synagoge beherbergte die Schule, nach ihrem Stifter Kadoori School genannt. Auch einer, der vorgesorgt hat, dachte Inge.
Die Neuankömmlinge, ganz gleich welchen Alters, wurden im sogenannten Kindergarten zusammengefasst, damit sie möglichst schnell die Unterrichtssprache Englisch lernten. Das geschah spielerisch, mit Liedern und Reimen, was schon deshalb naheliegend war, weil die Schüler unterschiedlichen Nationalitäten angehörtenund sich ohne diese gemeinsame Sprache kaum verständigen konnten. Jeder Schultag begann mit dem Hissen der weißen Flagge mit dem blauen Stern und dem Singen der »Hatikva«. Dieses Lied hatte neun Strophen und brachte die Hoffnung der Juden zum Ausdruck, dereinst ins Land Zion zurückzukehren. Inge verstand kein Wort, denn es wurde hebräisch gesungen. Aber sie war schließlich auch aus einem Land vertrieben worden, in das sie wieder heimkehren wollte, und so brachten die unbekannten Silben immerhin ein bekanntes Gefühl zum Ausdruck.
Die Vorzüge dieser Art Vorschule hatte Inge rasch erkannt: kein langweiliger Unterricht, kaum Hausaufgaben und nach einem regelmäßigen warmen Schulessen viel freie Zeit. Sie vermittelte ihr aber auch das Gefühl, mehrere Leben gleichzeitig zu führen: Morgens ging Inge als deutsches, evangelisch getauftes Mädchen in eine jüdische Schule, in der sie hebräisch sang und englisch sprach. Kaum war sie zu Hause, zog sie sich ihre chinesischen Sachen an, tauchte mit Sanmao in ihr Schanghaier Stadtviertel ein und lernte von ihm die besten Essstände und die wirksamsten Flüche kennen. Das heißt, wenn er sich denn dazu bereitfand, Zeit für »die Kleine« zu haben …
Was Inge bei alldem vermisste, waren Freundinnen, so wie Ina und Lotte es in Brandenburg gewesen waren, gleichaltrige Mädchen, mit denen man kicherte und Quatsch machte, denen man alles erzählen konnte und zu denen man nicht aufschauen musste. Inge, die sich keineswegs auf die Schule gefreut hatte, war zumindest in dieser Hinsicht erwartungsvoll gewesen,doch ihre Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Da es im »Kindergarten« keinen Klassenverband gab, waren die Kinder, die dort gemeinsam Englisch lernten, dem Alter und der Herkunft nach sehr verschieden. Die Einzige, die altersmäßig zu Inge passte, war Ruthchen. Ruth Rehmann war das Kind reicher Eltern, die ihr gesamtes Mobiliar, einschließlich Konzertflügel, mit nach Schanghai
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