Torte mit Staebchen
dich an.«
Einerseits war Inge froh über den neu erwachten Tatendrang ihrer Mutter. Aber warum musste er sich ausgerechnet so äußern?
Sie spielte gerade mit Laifu im Hof, als ihre Mutter zurückkam. Frau Finkelstein hatte sich »in Schale geworfen«, was mehr Aufwand bedeutete als »zurechtmachen«. Wintermantel mit Fuchskragen, Hut,hochhackige Schuhe, passende Handtasche und einen Hauch Lippenstift. Im Gegensatz zu Hongkou fiel sie im International Settlement in solcher Garderobe keineswegs auf. Hier lebten viele wohlhabende Ausländer und Geschäftsleute aller Nationalitäten.
»Inge, lass die Katze in Ruhe und komm mit rauf. Nach dem chinesischen Neujahrsfest, am 24. Februar, ist dein erster Schultag. Ich habe mit der Schulleiterin, einer Mrs. Hartwich, gesprochen. Sie ist Engländerin, hat aber früher in Deutschland unterrichtet. Der Unterricht ist auf Englisch. Sie hat daher vorgeschlagen, dass du zunächst in den angeschlossenen Kindergarten gehen sollst, damit du Englisch lernst. Nach den Sommerferien kommst du dann in deine Klasse.«
»Was? Ich soll in den Kindergarten?«, rief Inge entrüstet. »Mama. Ich bin elf!«
»Du wirst elf, Entlein, am 7. Mai. Aber darum geht’s jetzt gar nicht. Dort werden auch noch andere größere Kinder, die eben erst in Schanghai angekommen sind, sprachlich auf die Schule vorbereitet. Wie willst du denn dem Unterricht folgen, wenn du kein Englisch kannst?«
»Wir sind in China, falls du das noch nicht bemerkt hast. Wozu habe ich denn Chinesisch gelernt?«, gab Inge zurück.
Ausnahmsweise ließ Frau Finkelstein ihrer Tochter diese Unverschämtheit durchgehen. Jetzt war Motivation gefragt. »Dein Vater und ich sind ja auch sehr froh, dass du uns mit deinem Chinesisch helfen kannst. Aber Schanghai ist eben eine internationale Stadt.« Sie zog Inge an sich und strich ihr eine widerspenstigeSträhne aus der Stirn. »Jetzt komm schon, Entlein. So wie dir fremde Sprachen zufliegen, wirst du diese Vorbereitungsklasse sowieso bald hinter dir lassen. Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater. Der hat sein Englisch mühsam in der Abendschule lernen müssen, und jetzt ist er froh drum.« Das Wort »Kindergarten« vermied sie tunlichst und wechselte gezielt das Thema. »Lass uns mal deine Sachen durchsehen. Du bist in den letzten Monaten so gewachsen, dass ich manches anstückeln muss. So kann ich dich unmöglich in eine ordentliche Schule schicken.«
Mit dieser neuen Aufgabe blühte Frau Finkelstein zusehends auf. Jetzt kam die Singer zum Einsatz, die im Koffer gereist war und deren Gewicht Paolo so irritiert hatte.
»Inge, du musst mir helfen, einen Schreiner zu finden, der mir die Maschine auf einen Tisch montiert.«
Kein Problem für Inge, den furchtlosen Erkunder, Unterhändler und Preisdrücker. Nach ein paar Tagen lieferte der Handwerker aus einem der benachbarten Hinterhöfe den fertigen Nähmaschinentisch auf seinem Lastenfahrrad und wuchtete ihn in Frau Finkelsteins Dachstübchen hinauf. Da es eine »Versenkbare« war, würde Inge an dem Tisch sogar ihre Hausaufgaben machen können.
Aber so weit war es noch nicht. Während Frau Finkelstein sich mit Eifer Inges Schulgarderobe widmete, genoss diese die letzten Tage ihrer Freiheit. Sanmao hatte ihr einen neuen »Spielplatz« ganz in der Nähe gezeigt – den riesigen Hatong Park, den Mr. Silas Aaron Hardoon, auch so ein reicher Jude und Wohltäter,für seine Frau Jialing, genannt Lisa, hatte erbauen lassen. Er erstreckte sich über einen ganzen Straßenzug und begann gleich hinter dem »Burlington«. Dort wusste Sanmao ein Loch in der Mauer, durch das sie unbemerkt in das Anwesen schlüpfen konnten. Seit Sir Silas’ Tod lebte dort nur noch seine Witwe mit den vielen Adoptivkindern, und der Park war, vor allem in seinen äußeren Bezirken, ziemlich vernachlässigt. Solange sie nicht bis in den »Inner Garden« vordrangen, konnten sie dort unbehelligt umherstreifen.
»Und falls einer fragt, können wir immer sagen, dass wir Ruby besuchen wollen. Das ist einer der Hardoon-Söhne, der zeitweilig mal in meine Klasse ging. Auch so ein Halbdrache wie ich«, sagte er leichthin, doch Inge hatte längst bemerkt, dass dieses Thema für ihn durchaus schwerwog.
Sanmao führte sie vorbei an halb verfallenen Pavillons, Pagoden und künstlichen Felsformationen, mit Wässerfällen, Bächlein und zierlichen Brückchen. Ein Lotosteich war so vollständig mit großen, tellerrunden Blättern bedeckt, dass man verlockt
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