Torte mit Staebchen
Während er ihr ein idealer Führer und Vermittler war, wurde er von seinen Schulkameraden verachtet und gepiesackt.
Doch nicht minder überrascht war sie über seine Reaktion auf die Schikanen der Kameraden. Sie hatte Sanmao nie als aggressiven Schlägertyp gesehen. Wo hatte der das gelernt? Sie musste das unbedingt rauskriegen, denn solche Fertigkeiten könnten vielleicht auch ihr nützlich sein. Inge nahm sich vor, ihn zu fragen, aber nicht sofort. Vermutlich wollte er nicht so gern auf diesen Vorfall angesprochen werden, dessen Zeugin sie unabsichtlich geworden war.
Inge hatte inzwischen Erfahrung mit verletztenMännerseelen. Immerhin hatte Sanmao die Möglichkeit gehabt, sich zu wehren. Sich rausschmeißen lassen, sich nicht ärgern – schön und gut, aber es gab Situationen – vor allem in einer Umgebung, die einem nicht freundlich gesonnen war –, wo man sich verteidigen musste. Das wollte sie auch können.
Tags darauf, als sie gemeinsam durch den Hardoon-Park streiften, schien der richtige Zeitpunkt gekommen.
»Du, Sanmao, ich hab doch jetzt so einen langen Schulweg. Mal angenommen, da gibt’s unterwegs Ärger.«
»Was für Ärger?«
»Na ja, wenn mich zum Beispiel jemand verhauen will oder hänselt. Könnte doch passieren. Bei mir in der Schule sind sie manchmal ziemlich fies.«
Sanmao sah Inge prüfend an. »Du willst also nicht nur eine musterhafte, sondern auch eine wehrhafte Person sein, Yatou.«
»So könnte man’s sagen. Weißt du vielleicht, wie ich so eine werden kann?« Inge war mit einem Fuß aus ihren Holzpantinen geschlüpft und bohrte mit den nackten Zehen im weichen Dreck. Der gestrige Vorfall blieb unerwähnt.
Sanmao zögerte lange. Inge konnte ihm praktisch beim Denken zusehen. Es war ein schwerer innerer Kampf, den er da ausfocht: Ein Mädchen in die Geheimnisse der Kampfkunst einweihen? Noch dazu eine Langnase? Sie womöglich dem Meister vorstellen? Den eigenen Vorsprung aufgeben?
Doch dann nahm er so unvermittelt Kampfhaltungan, dass Inge erschrocken zurückwich. Sanmao hatte sich entschieden.
»Stell dich neben mich und mach mir alles genau nach.« Er nahm die Arme herunter und stellte sich schulterbreit hin. »Das Wichtigste ist ein guter Stand. Dann kann dich keiner aushebeln. Du musst das Gewicht gleichmäßig auf beide Fußsohlen verteilen und dir vorstellen, dass du im Boden festgewachsen bist.« Er machte es ihr vor. »So, und jetzt versuch mal, mich zu schubsen.« Sanmao stand wie ein Fels.
»Dasselbe mach ich jetzt mit dir.« Inge begann sofort zu straucheln. »Konzentrier dich auf deine Füße. Mach dich ganz schwer.« Er schubste sie noch ein paarmal. »Ja, so ist’s schon besser. Wir machen das jetzt am Anfang jeder Übungseinheit. Mit der Zeit wirst du immer mehr Bodenhaftung bekommen. Wer nicht gut steht, kann nicht gut kämpfen.«
Übungseinheit? Inge überlief ein freudiger Schauer. Hatte sie jetzt einen Kungfu-Lehrer? Lieber nicht fragen, sonst überlegte der es sich womöglich noch anders. Sie versuchte, sich schwer zu machen und vorauszuahnen, wo Sanmao sie anschubsen würde. Aber sie merkte bald, dass Gedanken bei dieser Übung bloß störten.
Anschließend zeigte Sanmao ihr die Grundstellung. Am Ende ihrer ersten Unterrichtsstunde war Inge schweißnass, obwohl sie sich kaum bewegt hatte. Dennoch war jeder Muskel ihres Körpers in ständiger Bereitschaft gewesen.
Jetzt konnte Inge ihre brennende Frage nicht länger zurückhalten.
»Wo hast du das alles gelernt, Sanmao?«
»Seit ich zwölf bin, übe ich zweimal die Woche Kungfu bei einem Meister, bei Lin
shīfu
.«
Jetzt wusste Inge auch, weshalb er dienstags und donnerstags immer unauffindbar gewesen war.
»Aber dann hättest du deine Klassenkameraden doch neulich leicht fertigmachen können«, platzte sie heraus, merkte aber sofort, dass sie zu weit gegangen war.
»Woher weißt du denn das?«, fragte Sanmao deutlich reserviert.
»Ich kam gerade von der Straßenbahnhaltestelle, da hab ich zufällig gesehen, wie sie dich geärgert haben.«
Er ließ sie eine Weile zappeln, und als die Antwort endlich kam, verpackte er sie gleich in eine Lektion für seine Schülerin.
»Ein Kungfu-Kämpfer setzt sein Können nie gegen Wehrlose ein, merk dir das. In einem solchen Fall kämpft man nur so lange, bis sich ein anderer Ausweg auftut.«
»Verstanden,
shīfu
.«
Im Meer der Wörter
Schanghai, 1940 – Jahr des Drachen
龍
Inge kam das Straßenchinesisch mittlerweile so flüssig über
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