Torte mit Staebchen
sich zwischen dem Namen Hitler und diesem »uns« auftat, nicht abschätzen.
»Psst, Yatou, nicht so laut.« Ihm ging es vor allem darum, dass Hotelpersonal oder Hausgäste nicht auf die blinden Passagiere aufmerksam wurden. Aber Inge war nicht zu bremsen. »Ich muss zu meinen Eltern. Vielleicht wissen die das noch gar nicht.« Schon war sie aufgesprungen und überquerte auf dem kürzesten Weg den Rasen. Der Löwe von Metro-Goldwyn-Mayer im Vorspann des Films unterbrach für einen Moment sein Gebrüll, als ein kleiner schwarzer Schatten den Lichtkegel des Projektors durchschnitt und über die Leinwand huschte.
»Inge!«, rief Sanmao ihr nach.
Sie rannte den ganzen Weg bis nach Hause, vorbei an Chinesen im Pyjama, die ihre Bambusliegen für die Nacht auf den Gehweg gestellt hatten, vorbei an Bars und Unterhaltungslokalen, in denen sich das Nachtleben warmlief, und vorbei an den stark geschminkten Damen in hoch geschlitzten Kleidern, die darin eine tragende Rolle spielten.
Atemlos kam Inge im Hinterhaus an und stürmte ins Wohnzimmer, wo abends ihre Schlafcouch ausgeklappt wurde. Die Mutter saß mit einer Näharbeit am Tisch, der Vater las in einer alten Ausgabe der Emigrantenzeitung. »Mama, Papa, in Europa ist Krieg!«, rief sie, zu mehr reichte die Luft nicht.
»Was ist denn los, Kind? Warum bist du schon zurück?«
»England hat Deutschland den Krieg erklärt. Ich hab’s in der Wochenschau gesehen.«
»Ja, das war am 3. September«, erwiderte ihr Vater ruhig. »Aber angefangen hat Hitler, indem er am 1. September in Polen einmarschiert ist. Inzwischen ist auch Frankreich in den Krieg eingetreten. Wir wussten davon, wollten dich aber nicht beunruhigen.«
Einen Moment lang war Inge sprachlos. In ihrem Kopf überschlug sich alles.
»Dann können wir also nicht zurück?«
»Wir hätten sowieso nicht zurückgekonnt, nicht solange die Nationalsozialisten an der Macht sind. Jetzt können wir nur hoffen, dass es rasch zu Ende geht.«
»Du meinst mit uns?«, fragte Inge ungläubig »Du meinst, wir müssen hoffen, dass Deutschland den Krieg verliert?« Mit traumwandlerischer Sicherheithatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen – und ihn gleichzeitig tief in die wunde väterliche Seele getrieben.
»Ach, Inge, warum musst du immer die richtigen Fragen stellen! Das sind die, die am schwersten zu beantworten sind. Aber ich will dir die Antwort nicht schuldig bleiben: Ja – ich fürchte, das müssen wir.«
Eine Weile saßen sie stumm um den Tisch, eine deutsche Familie in Schanghai, deren Leben gründlich aus den Angeln gehoben war.
Frau Finkelstein sah nacheinander Mann und Tochter an. »Lasst uns ›Mensch-ärgere-dich-nicht‹ spielen«, schlug sie vor. »Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«
Diesmal gewann Herr Finkelstein. Er hatte heute mit ungewöhnlicher Verbissenheit gespielt und seine grünen Männchen einen nach dem anderen in den sicheren Hafen gebracht. Inge betrachtete nachdenklich ihre kleine rote Truppe, die immer wieder von den Grünen auf die Plätze verwiesen worden war. Plötzlich kamen sie ihr vor wie marschierende Soldaten. Jetzt muss ich mich also in Zukunft immer freuen, wenn meine Leute rausgeschmissen werden, überlegte sie. Aber wer sind »meine Leute«?
Das gute am »Mensch-ärgere-dich-nicht« war, dass man es wegpacken und die Geister, die es wachrief, am Schluss wieder in die rote Schachtel bannen konnte.
Als die Schlafcouch ausgezogen war und Inge auf ihrer Bambusmatte lag, konnte sie nicht einschlafen. Nicht wegen der Hitze, an die hatte sie sich mittlerweilegewöhnt. Auch nicht wegen der blutrünstigen Mücken, die sie durstig umschwirrten, die hielt ihr die fein gesponnene Festung ihres Moskitonetzes vom Leib. Sie musste an Brandenburg denken und an die Freundinnen dort. Um Lotte, die schon immer begeistert bei den Jungmädeln mitgemacht hatte, musste man sich nicht sorgen. Die marschierte hinter einer Hakenkreuzfahne und sang kämpferische Lieder, genau wie die Hitlerjugend in Schanghai. Aber was war mit Ina, der mandeläugigen Ina aus China? Die war jetzt auf ihrer Flucht vor dem Krieg in einen neuen Krieg geraten.
Wehrhaft
Schanghai 1939 – Jahr des Hasen
兔
»Good morning, boys and girls!«
»Good morning, Mrs. Hartwich«, antwortete am ersten Morgen die Klasse, zu der nun auch Inge gehörte. Der lange Schulweg, der sie quer durch die Stadt führte, machte Inge nichts aus, ganz im Gegenteil. Aus Sparsamkeitsgründen (»Wer
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