Torte mit Staebchen
gehen? In eine ganz normale Schule? So wie Sanmao?«
»Das können wir uns nicht leisten, Inge. Die jüdische Schule verlangt kein Schulgeld, und außerdem bekommst du dort ein ordentliches Mittagessen. Wir müssen froh sein, dass sie dich überhaupt genommen haben, obwohl deine Mutter evangelisch ist.«
»Aber das ist genau das Problem«, rückte Inge mit ihrem Kummer heraus. »In der Pause haben die anderen zu mir gesagt, ich sei ’ne Deutsche. ›Ja, genau wie ihr‹, hab ich gesagt und dachte, damit sei das geklärt. Aber sie haben drauf bestanden, dass ich ›arisch‹ sei und anders als sie, weil sie spitzgekriegt haben, dass Mama evangelisch ist.« Wenn sie an die Szene im Schulhof dachte, hätte sie sich noch im Nachhineinam liebsten auf die Zunge gebissen. »Eine hat mich sogar ›Schickse‹ genannt. Das klang gar nicht nett.«
»Da hast du recht. Schickse ist eine wenig schmeichelhafte Bezeichnung für nichtjüdische Mädchen.«
»Ich find das richtig doof«, empörte sich Inge. »Mal hat man ein Problem, weil man angeblich jüdisch ist, und dann wieder, weil man’s nicht ist.«
»Denk an unser ›Mensch-ärgere-dich-nicht‹, Entlein. Manchen macht es eben Spaß, andere rauszuschmeißen aus ihrer Gemeinschaft. Vielleicht gerade weil sie das schon am eigenen Leib erlebt haben und umso festere Gruppen bilden. Lass dich nicht unterkriegen. Und das bisschen Hebräisch machst du doch mit links. Überleg mal, du kannst all diese Fremdsprachen in der Schule lernen. Ich musste mir mein Englisch später mühsam in der Abendschule reinpauken, das war nach zehn Stunden in der Backstube wirklich kein Spaß.«
»Na ja, immerhin hat Hebräisch ein Alphabet mit gerade mal 23 Konsonanten, und die Vokale sind bloß Pünktchen.«
Herr Finkelstein musste sich ein Lächeln verkneifen. Offenbar hatte seine sprachbegabte Tochter die Herausforderung längst angenommen.
***
Der lange Schultag und der umständliche Schulweg beschnitten Inges Nachmittage mit Sanmao beträchtlich. Sie sah ihren Freund jetzt viel weniger als noch zu Kindergartenzeiten. Als sie eines Nachmittags vonder Straßenbahnhaltestelle nach Hause trödelte, sah sie ihn vor sich in einem Pulk anderer Jungen die Straße überqueren. Den Jacketts und weißen Hemden nach zu urteilen, waren auch sie auf dem Heimweg von der Schule. Da es ihm sicher nicht angenehm gewesen wäre, vor seinen Kameraden von einem Mädchen begrüßt zu werden, das noch dazu deutlich jünger war, verlangsamte Inge den Schritt und blieb hinter der Schar zurück.
Plötzlich sah sie, wie die anderen – allesamt »Weiße« – Sanmao zu schubsen begannen. »He, Halbblut«, hänselte ihn einer. »Dir ist ins Gesicht geschrieben, dass dein Alter mit einem Schlitzauge ins Bett geht.«
»Mixed Pickles!«, rief ein anderer. Alle lachten. Neugierige Passanten blieben stehen und gafften.
Das klang bei Weitem nicht so nett wie die Bezeichnung »Halbdrache«, die Sanmao für sich selbst gebraucht hatte, überlegte Inge. Dann sah sie, wie Sanmao im Kreis seiner feixenden Peiniger plötzlich in Kungfu-Kampfstellung ging: Beine schulterbreit, rechte Schulter vor, Arme zu Schlag und Verteidigung erhoben.
Inge hielt den Atem an. Der wird sich doch nicht prügeln, wo die anderen eindeutig in der Überzahl sind.
»Memme!« – »Muttersöhnchen!« – »Geh doch zu deiner Chinesenmama!« Hämisch lachend deuteten sie auf Sanmaos geballte Fäuste. Doch es war dessen Fuß, der gleich darauf gegen die Brust eines Kameraden prallte. Aus dem Stand hatte Sanmao zu einem Drehsprung angesetzt und einen gezielten Tritt platziert;der Getroffene landete mit voller Wucht auf dem Hintern. Seinen Schwung ausnutzend, stieß Sanmao den Nebenmann mit beiden Händen zur Seite. Dieser blitzschnelle Angriff hatte eine Lücke im Kreis entstehen lassen. Und Sanmao rannte. Keine besonders ehrenhafte Lösung, fand Inge, aber sie funktionierte. Bis seine Schulkameraden sich von ihrem Schreck erholt hatten, war Sanmao längst in der Hofeinfahrt verschwunden. Für diesmal war er ihnen entkommen.
Nachdenklich und in einigem Abstand folgte Inge ihrem Freund. Dem geht’s in der Schule offenbar nicht besser als mir, überlegte sie. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass auch Sanmao ein Außenseiter war. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass der Junge, den sie so anhimmelte, auch Feinde haben könnte. Was sie immer als Vorteil gesehen hatte, nämlich die Zugehörigkeit zu zwei Kulturen, war sein Handicap.
Weitere Kostenlose Bücher