Torte mit Staebchen
aufsteigender Strichzahl enthielt. Bald hatten sie den Maulwurf gefunden und wurden von einer Seitenzahl auf den eigentlichen Eintrag verwiesen, der den Maulwurf mit seinen wichtigsten lexikalischen Verbindungen vorstellte.
»Leider ›Wörtermeer‹ ist einsprachige Lexikon. Besser für dich ist eine chinesisch-deutsche Wörterbuch, da steht Aussprache in westliche Umschrift –
yan
– und Übersetzung in Deutsch. Jetzt weißt du, dass es heißt Maulwurf und spricht
yǎnshǔ.
«
»Puh, das ist wirklich ganz schön kompliziert«, meinte Inge, trotzdem faszinierte sie dieses Spiel, und sie überlegte kurz. »›Schnarchen‹ ist dann Nase mit drei Strichen, stimmt’s? Darf ich mal?«
Inge zog das Buch zu sich heran und hatte bald den Eintrag für das Verb »schnarchen« gefunden. Das war ja wie beim Knobeln. Frühlingserwachen war inzwischen zum Bücherschrank gegangen und kam mit einem weiteren dicken Nachschlagewerk zurück, das sie vor Inge auf den Tisch legte. »Deutsch-chinesisches Wörterbuch« stand darauf.
»Habe ich gekauft für meine Mann, aber er backt lieber Kuchen als lernt Chinesisch. Ich borge dir.«
»Du leihst es mir,
āyí
, und ich borge es von dir. Und danke, das ist sehr lieb von dir.« Inge grinste Frühlingserwachen an.
Hier versuchten zwei, dem jeweils anderen die eigeneSprache beizubringen; Rücksichten auf Hierarchie oder Höflichkeit brauchte man dabei nicht zu nehmen, die Rollen von Lehrerin und Schülerin waren austauschbar. Frühlingserwachen schien daran genauso viel Spaß zu haben wie Inge.
»Als Erstes du musst dir Radikale einprägen, damit du Zeichen finden kannst. Als Nächstes musst du lernen Striche zählen. Dann ich gebe dir Hausaufgabe: Zehn Zeichen in diese Wörterbuch nachschlagen!«
»Au ja, so machen wir’s.«
Inge klemmte sich das Wörterbuch unter den Arm und machte vor lauter Aufregung einen Knicks. Das hatte sie schon lange nicht mehr getan und eigentlich immer ziemlich albern gefunden. Aber wie sollte sie sonst ihre Freude und Dankbarkeit ausdrücken?
Sie war völlig fasziniert von dieser Schrift, die ihre Lautgestalt nicht preisgab, sondern nur den Sinngehalt. Mit ihr konnte man sich die Welt zusammensetzen wie aus einem Setzkasten. Den Vorteil, dass die unterschiedlichen Dialekte dieses Riesenreichs sich einer einheitlichen Schrift bedienten, musste man allerdings mit hohem Gedächtnisaufwand bezahlen. Von nun an vertiefte Inge sich in jeder freien Minute in das Wörterbuch und prägte sich Radikale ein, indem sie die Ränder von Papas alten Zeitungen damit voll schrieb.
Die vielen Laden- und Straßenschilder auf dem Schulweg sah sie von nun an mit anderen Augen. Sie setzte ihren Ehrgeiz daran, einzelne Zeichen zu »knacken« und in ihre Bestandteile zu zerlegen: 路
lù
die Straße hatte einen Fuß als Radikal; 家
jiā
das Haus zeigte ein Schwein unter einem Dach, und 桥
qiáo
dieBrücke war aus Holz, auch wenn die Garden Bridge, die Inge jeden Tag auf dem Schulweg überquerte, eine solide Eisenkonstruktion war.
***
Wieder näherte sich der 7. Mai, Inges zwölfter Geburtstag. Seit dem Fiasko bei Ruthchens Party und nachdem sie auch in der neuen Schule bislang keine wirkliche Freundin gefunden hatte, verschwendete Inge keinen Gedanken mehr an eine Geburtstagsfeier. Wen hätte sie auch einladen sollen? Außerdem hätte Frau Finkelstein das vermutlich für eine zu extravagante Ausgabe gehalten. Bevor Inge sich ein »Das können wir uns nicht leisten, wer weiß, was noch kommt« abholte, fragte sie lieber gar nicht erst.
Ihr Geburtstagsfrühstück bestand aus Weißbrot vom Vortag und einer Tasse Tee, die sie sich selber aufbrühte. Der Vater war längst in der Backstube, die Mutter schlief noch. Der Tag versprach klar und sommerlich warm zu werden; nicht die klebrige Hitze des richtigen Sommers, sondern angenehm laue Luft, die mit einer frischen Meeresbrise durchsetzt war. An solchen Tagen konnte Inge schon an der Straßenbahnhaltestelle das ferne Tuten der Frachter auf dem Huangpu hören. Spätestens als die Straßenbahn auf den Bund einbog und die glitzernde Wasserschleife mit den vielen Booten vor ihr lag, hob sich ihre Stimmung. Diesem Anblick konnte sie einfach nicht widerstehen. Na gut, dann eben kein Geburtstag, tröstete sie sich, der war ja schon an Neujahr, schließlichsind wir hier in China. In der Schule wusste sowieso keiner davon.
Nachdem sie den Unterricht abgesessen hatte und nachmittags die Treppe im Hinterhaus
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