Torte mit Staebchen
weiß, was noch kommt«) fuhr sie in der dritten Klasse der Straßenbahn, wo fast ausschließlich Chinesen fuhren und das Gedränge am größten war. Sie blieb auf der Außenplattform stehen, ließ sich den Fahrtwind um die Ohren wehen und sah sich die Auslagen der Geschäfte an. Bei dem Schneckentempo glich die Fahrt durch die Nanking Road einem Schaufensterbummel.
Jedes Mal, wenn die Bahn die Garden Bridge überquerte, hielt Inge Ausschau nach weißen Passagierdampfern, doch es waren schon länger keine mehr angekommen. Seit Kriegsausbruch war der Strom der Flüchtlinge aus Europa nahezu versiegt; nur noch wenige schafften es über den langen, komplizierten und gefährlichen Landweg bis nach Schanghai. Stattdessen ankerte das japanische Kanonenboot »Idzumo« jetzt demonstrativ mitten in der Flussbiegung.
Hongkou, der »Mund des Regenbogens«, war keinNeuland für Inge und längst nicht so romantisch wie sein Name; aus diesem Mund konnte es ziemlich schlecht riechen. Ihre Schule lag in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem der »Heime«, ähnlich jenem, in dem sie ihre erste Nacht in Schanghai verbracht hatte. Auch mit dem Englischen war sie ausreichend vertraut, um dem Unterricht bald problemlos folgen zu können. Sogar in der Pause waren die Schüler gehalten, Englisch zu sprechen, was aber keiner tat, sobald die Lehrer außer Hörweite waren. Kaum läutete es, bildeten sich im Schulhof die immer gleichen Grüppchen; Mädchen und Jungen blieben streng getrennt, was Inge schon mal doof fand, aber auch die einzelnen Nationalitäten sonderten sich ab. Die Mädchen aus dem »angeschlossenen« Österreich zeigten keinerlei Sympathien für die »Piefkes« und umgekehrt. Dann gab es noch das kleine Häuflein der osteuropäischen Emigranten.
Alles klar, dachte Inge und gesellte sich zu einer Gruppe Mädchen, die eifrig auf Deutsch miteinander tuschelten. Als Neuling wurde sie natürlich erst einmal ausgefragt.
»Wo kommst du her?«
Inge erzählte von Brandenburg, von der zerstörten Konditorei und dem Lageraufenthalt des Vaters. Erleichtert stellte sie fest, dass fast jeder hier Ähnliches zu berichten hatte. Endlich würde sie dazugehören, vielleicht sogar eine Freundin finden.
»Und wo wohnst du?« Als Inge die Bubbling Well Road nannte, stand sie gleich noch mehr im Zentrum des Interesses. Ihre Klassenkameradinnen hatten sich mit ihren Eltern fast alle in Hongkou niedergelassenund kamen aus diesem Viertel kaum heraus. Sie fanden es todschick, dass Inge im mondänen International Settlement lebte.
»Da gibt’s doch sicher jede Menge Lokale und Kinos«, hieß es bewundernd.
»Und lauter tolle Modegeschäfte«, wusste eine andere.
Mit Mode kannte Inge sich nicht aus, dafür umso mehr mit Kinos.
»Bei uns um die Ecke ist das ›Uptown Theatre‹«, berichtete sie stolz und setzte gleich noch eins drauf. »Dafür reicht mein Taschengeld leider nicht, aber im ›Burlington‹, das ist ein Hotel, da machen sie Freitag abends immer Freiluftkino für die Gäste. Wenn man weiß, wie’s geht, kommt man umsonst rein.«
Plötzlich wurde es ganz still. Mehrere Augenpaare starrten Inge feindselig an.
»Was? Du gehst am Freitagabend ins Kino?«, fragte eine aus dem Kreis. »Feiert ihr zu Hause denn nicht Schabbat?«
Inge merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Auweia, das hatte sie wieder mal gründlich vermasselt.
»Meine Mutter ist evangelisch«, nuschelte sie und sprach damit ihr eigenes Urteil.
***
»Na, wie war’s in der Schule?«, erkundigte sich der Vater, als Inge nach Hause kam. Es war bereits später Nachmittag, lustlos schleuderte sie ihren Ranzen in eine Ecke.
»Bin ich froh, dass wir nicht mehr in Hongkou wohnen.« Sie kraulte Laifu hinter den Ohren, der ihr grüßend um die Beine strich. Der kleine Kater hatte sich längst das Hausrecht bei den Finkelsteins erschmeichelt und als eifriger Mäusefänger auch redlich verdient. »Von der Schule kann man direkt in eines der Heime schauen. Da sind die Schlangen vor der Essensausgabe jetzt noch länger als bei uns damals, und nach der Wäsche zu urteilen, die auf den Leinen hängt, müssen die Schlafsäle total überfüllt sein.«
»Und die Schule?«
»Na ja.« Begeistert klang das nicht gerade. »Alles auf Englisch, dazu haben wir noch Französisch und Hebräisch. Ich seh wirklich nicht ein, warum ich das alles lernen soll, wo Chinesisch doch viel nützlicher wäre. Schließlich sind wir in China. Kann ich nicht hier in der Nähe in die Schule
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