Torte mit Staebchen
ausgedacht hat, um das Geschäft zu beleben.
Alles lief ab, wie gehabt, nur dass sich diesmal die Affen verzweifelt an ihre Reittiere klammerten, während diese sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit in die Kurven legten. Die Menge auf den Tribünen johlte.
Fasziniert und abgestoßen zugleich verfolgte Inge das Rennen. Zum Glück blieben alle Jockeys bis zum Ziel im Sattel. Inge war froh, als es vorbei war.
»Das war das Finale. Gehen wir, bevor das Gedränge zu dicht wird«, sagte Sanmao und deutete auf den Ausgang.
Schweigend gingen sie durch die dämmrigen Straßen nach Hause, in denen eben die Leuchtreklamen ansprangen. Jeder war in seine Gedanken vertieft. Auch wenn Inge mit gemischten Gefühlen auf die Ereignisse dieses Nachmittags zurückblickte, verstand sie doch, dass Sanmao ihr ein bislang unbekanntesStück Schanghai hatte zeigen wollen, das Schanghai der Erwachsenen, in das er, der jetzt sechzehn war, seine Fühler ausstreckte.
Dankbar sah sie ihn von der Seite an und sagte: »Danke, Sanmao. Das war ein tolles Geburtstagsgeschenk.«
***
»Das wird eine Fünf-Röcke-Winter«, hatte Frühlingserwachen bereits Anfang Oktober prophezeit. Die Wetterregel, aus der sie das ableitete, übersetzte Inge mit: »Kalte Nächte und üppiger Tau, jetzt gibt es bald Schnee im Gau.« Und wie immer behielt sie recht. Als im November das feuchtkalte Wetter in Schanghai Einzug hielt, kam Frau Finkelstein mit dem Anstückeln gar nicht mehr nach. Die Ärmel von Inges Wintermantel ließen sich mit angestrickten Stulpen verlängern, und unter dem Faltenrock ihrer Schuluniform trug sie jetzt dicke Wollstrümpfe. Das Problem waren die Schuhe. In dem Maße, wie Inge in die Höhe schoss, wuchsen auch ihre Füße – zum Glück, denn sonst wäre es vorbei gewesen mit der Bodenhaftung, und Sanmao hätte leichtes Spiel gehabt bei ihren Übungsstunden. Im Sommer, wo alle Kinder in einfachen Holzpantinen mit Lederriemen oder Stoffschuhen herumliefen, war es egal, wenn die Zehen ein bisschen weiter vorlugten, aber jetzt im Winter ließ sich das Schuhproblem nicht mehr wegleugnen. Und das bestand darin, dass Inges Füße schon jetzt größer waren als die einer durchschnittlichen erwachsenen Chinesin.
Die Verkäuferin im Schuhladen hatte nach einem Blick auf Inges Füße resigniert mit den Schultern gezuckt: »This size no got, Missy.« Dabei machte sie eine Handbewegung, als wäre Inge in kleinen Kähnen unterwegs.
In der Bubbling Well Road gab es zwar ein Schweizer Schuhgeschäft, das die Ausländergemeinde mit passenden Schuhen versorgte und Inges Problem leicht hätte lösen können, aber zu welchem Preis! Wieder war es Frühlingserwachen, die Rat wusste: »Du gehen Herrenabteilung.«
Seither stapfte Inge in chinesischen Männerstiefeln durch Schanghai. Das kam ihr keineswegs ungelegen, denn in diesem Schuhwerk war sie – abgesehen von seiner Wetterfestigkeit – schnell, standfest und stets verteidigungsbereit.
»Da kommt der deutsche Trampel«, tuschelten ihre Klassenkameradinnen laut genug, dass sie es auch gewiss hören konnte. Inge war das gleich; war man erst einmal zum Außenseiter gestempelt, dann spielte es keine Rolle mehr, wie weit außen man stand. Wenn ihr wüsstet, dachte sie im Stillen. Ihr Selbstvertrauen war mit jeder von Sanmaos Übungsstunden ein bisschen gewachsen, es war tatsächlich eine wehrhafte Person aus ihr geworden. Selbst die Rikschakulis und Lastenradler mussten sich vor dem zierlichen blonden Mädchen in Acht nehmen. Kam ihr einer bei einem gewagten Ausweichmanöver zu nahe, schickte sie ihm einen vernichtenden Fluch hinterher:
»Mögen dir die Speichen von den Rädern fallen, du Schildkrötenei!«
Noch ein Krieg
Schanghai, 1941 – Jahr der Schlange
蛇
Seit dem Ausflug mit Sanmao war Inge auf den Geschmack gekommen. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Stadt allein zu erkunden, denn leider hatte man nicht öfter Geburtstag (Inge war mit zweimal im Jahr ohnehin schon gut bedient), und leider hatte ihr Stadtführer nicht immer dann Zeit, wenn sie es sich gewünscht hätte. Aber ein furchtloser Erkunder, zumal wenn er mittlerweile stolze dreizehn Jahre alt war, konnte ja auch allein losziehen. Wenn man ihr den täglichen Schulweg nach Hongkou zumutete, konnte man ihr auch nicht verbieten, ihren Radius darüber hinaus ein wenig zu erweitern.
Was Inge am meisten lockte, war der Fluss, besonders in aller Frühe, wenn der Wind frisch war und kleine Wellenkämme vor sich her
Weitere Kostenlose Bücher