Torte mit Staebchen
trieb. Unmittelbar am Ufer gab es einen Park, den sie von der Straßenbahn aus oft gesehen hatte; er war in jenen Zipfel Land eingepasst, den die Mündung des Soochow Creek zum Bund hin bildete. An einem schönen Frühsommertag stieg Inge kurz entschlossen an der Haltestelle vor der Garden Bridge aus. Auf eine Stunde Hebräisch konnte man leicht mal verzichten, und eine überzeugende Ausrede würde ihr schon einfallen.
Am Eingang studierte sie erst einmal die umfangreiche Tafel mit den zehn Verhaltensregeln: Der Park sei der »Foreign Community« vorbehalten, hieß es da, Hunde und Fahrräder seien verboten, und die Amahs gehalten, ihre Schützlinge ordentlich zu beaufsichtigen. Es sprach offenbar nichts dagegen, dass sie den Park betrat, solange sie auf den Wegen blieb und »respectably dressed« war. Inge sah an sich hinunter: kein Problem, sie trug ja Schuluniform. Dann schlenderte sie an dem runden Musikpavillon vorbei, der um diese Tageszeit verwaist war, und steuerte auf eine Bank an der Uferpromenade zu. Von hier aus konnte sie das Treiben auf dem Fluss bestens verfolgen.
Nach einer Weile fiel ihr im normalen Schiffsverkehr ein Boot auf, das sich schräg zur Fahrrinne über den Fluss bewegte. Ein Mann trieb es mit einem Heckruder an und steuerte aufs Ostufer zu. Dort drüben dehnte sich flaches Ackerland, außer ein paar Fabrikhallen und Schuppen war nichts Interessantes zu entdecken. Jedenfalls war das ein denkbar starker Kontrast zu den prächtigen Gebäuden am Bund. Inge musste die Augen zusammenkneifen, um das Boot nicht aus den Augen zu verlieren. Sie konnte gerade noch erkennen, wie drüben die Fahrgäste aus- und neue zustiegen. Dann wiederholte sich der Vorgang in Gegenrichtung: Aha, eine Fähre! Nicht dass Inge das wenig reizvolle Pudong besuchen wollte, aber so eine Überfahrt konnte nicht teuer sein, und wäre immerhin eine Möglichkeit, endlich mal wieder aufs Wasser zu kommen. Die einzige Art von Bootsausflug, die Inge sich leisten konnte. Sie prägte sich die Stelle, wodas Boot am diesseitigen Ufer anlegte, genau ein, dann stand sie auf und nahm die nächste Straßenbahn.
In diesen Park würde sie nicht mehr gehen, überlegte Inge auf dem Weg in die Schule: keine Chinesen, die ihr morgendliches Taiji übten, keine Händler, die Teeeier oder andere Leckereien verkauften, keine Kinder, die Drachen steigen ließen – hier war es einfach nicht
rènao
genug. »Heiß und laut«; in diesem Wort kam alles zum Ausdruck, was das Leben in China so fröhlich und unterhaltsam machte. Jetzt bin ich schon so chinesisch, dass ich mich in einem für Ausländer reservierten Park langweile, dachte Inge. Aber immerhin hatte sie dort die Fähre entdeckt und ihren nächsten Ausflug geplant.
In der Schule war sie beim
rollcall
schon vermisst worden – jeden Morgen wurden alle Namen vorgelesen, und die Schüler mussten mit »hier« antworten; leider hatte Inge keine Verbündete, die für sie gemogelt hätte.
»Bei meiner Straßenbahn ist heute gleich mehrmals der Stromabnehmer aus der Leitung gesprungen«, entschuldigte Inge sich bei Miss Hartwich. »Wir mussten ewig warten, bis der Fahrer ihn wieder einhängt hatte. Irgendwas muss da kaputt gewesen sein«, legte sie nach, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Miss Hartwich musterte sie skeptisch und sagte nur: »Would you repeat that in English, please.«
»Oh, sorry, Miss Hartwich, I forgot«, entschuldigte sich Inge hastig und log dann gleich noch einmal auf Englisch.
Als bald darauf die Ferien begannen, setzte Inge ihren Plan in die Tat um. Diesmal nicht als »respektabel gekleidetes« Schulmädchen, sondern in ihren bequemen chinesischen Sommerklamotten. Sie fuhr mit der Straßenbahn zum Bund und fand auch bald die Anlegestelle der Fähre, ein hölzerner Steg, auf dem schon einige Fahrgäste warteten.
»
Láihuí duōshao qián?
«, erkundigte Inge sich nach dem Fahrpreis und erfuhr, dass die Hin- und Rückfahrt 3 Mao kostete, so viel wie zwei Lauchpfannkuchen (Inge hatte sich angewöhnt, alles in Essenseinheiten umzurechnen). Das war ihr das Vergnügen einer Flussüberquerung wert.
Nachdem die Fähre angelegt und die Fahrgäste mit ihren riesigen Gemüsekörben und lebenden Hühnern ausgespuckt hatte, balancierte Inge über die ausgelegte Planke in das schwankende Boot, zählte dem Fährmann die Münzen hin und quetschte sich zwischen die durchwegs chinesischen Mitreisenden auf ein schmales Bänkchen. Nun begann das unvermeidliche
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