Torte mit Staebchen
Vater, und Inge war plötzlich hellwach.
Die beiden Konditormeister waren mit einer der ersten Straßenbahnen, die in Schanghai die letzten Nachtschwärmer aus den Bars und Freudenhäusern nach Hause brachte, bis zum Bund gefahren. Als die Tram am Cathay Hotel nach links zur Garden Bridge abbiegen sollte, hatten ihr japanische Soldaten mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten die Weiterfahrt versperrt. Alle Fahrgäste mussten aussteigen. An der Uferpromenade bot sich den beiden ein bizarres Bild: Der ganze Fluss schien in Flammen zu stehen, rot glühender Qualm zog über das Wasser. Es dauerte eine Weile, bis sie den Brandherd ausmachen konnten. Die britische »Peterel« stand in Flammen, während die Soldaten versuchten, sich von dem sinkenden Schiff ans Ufer zu retten; offenbar hatte es auch Verwundete gegeben. Erst als sie zur amerikanischen »Wake« hinübersahen, begannen sie zu ahnen, was sich zugetragen hatte. Über dem amerikanischen Kanonenboot wehte die japanische Kriegsflagge, auf Deck rannten japanische Soldaten hin und her. In der Flussbiegung dahinter zeichneten sich im Zwielicht bedrohlich die Umrisse der »Idzumo« ab.
»Von dort aus müssen sie im Schutz der Dunkelheit die beiden Schiffe angegriffen haben«, erzählte Herr Finkelstein mit Verachtung in der Stimme. »Es war ein ganz und gar ungleicher Kampf. Die ›Idzumo‹ ist ein seetüchtiges Kriegsschiff, die beiden anderen sind nur kleine Kanonenboote mit reduzierter Besatzung. Die Japaner haben sie aus unmittelbarer Nähe beschossen und dann geentert.«
»Aber wie können die Japaner sich mit den beiden Großmächten anlegen?«, fragte seine Frau.
»Die sind doch woandershin abgezogen, ich hab’s euch doch erzählt«, warf Inge aufgeregt ein, schließlich war sie dabei gewesen. »Jetzt ist keiner mehr da, der uns vor den Japanern beschützt.«
»Ich fürchte, du hast recht«, bestätigte der Vater. »Als wir dann auf dem Heimweg waren, haben sie vom Flugzeug aus Flugblätter abgeworfen.« Er zog ein zerknülltes Blatt aus der Tasche und strich es auf dem Tisch glatt. Inge sah, dass es auf Chinesisch und Englisch abgefasst war. »Sie lassen uns wissen, dass Seine Majestät der japanische Kaiser den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien den Krieg erklärt hat, und kündigen den Bewohnern des International Settlement für zehn Uhr die Besetzung ihres Stadtteils an. Künftig werden wir Teil der ›Großasiatischen Wohlfahrtszone‹ sein. Wir sollen ›zur eigenen Sicherheit‹, wie es heißt, Ruhe bewahren und unseren normalen Verrichtungen nachgehen. Aber du gehst mir heute trotzdem nicht in die Schule, Entlein.«
Doch die rechte Freude wollte bei Inge nicht aufkommen.
Falsche Freunde
Schanghai, 1942 – Jahr des Pferds
馬
Als Inge wieder in die Schule ging, fehlte auf der Garden Bridge der britische Wachtposten. Sie vermisste ihn sehr. Es hatte ihr immer ein Gefühl von Sicherheit gegeben, wenn er ihr auf dem Heimweg von der Schule zulächelte. Dann wusste sie, dass sie wieder das International Settlement betrat. Jetzt herrschten auch diesseits des Soochow Creek die Japaner. Man sah die Kaiserlich-Japanische Armee mit ihren schwarzen Stiefeln, Gewehren und gekreuzten Munitionsgurten in kleinen Trupps durch die gesamte Stadt patrouillieren, zu Fuß, zu Pferd oder auf Lastwagen. Selbst in der Schule musste neben der weißen Flagge mit dem blauen Stern nun die japanische Kriegsflagge gehisst werden: eine rote Sonne auf weißem Grund, die ihre Strahlen über ganz Asien, die Großasiatische Wohlfahrtszone, aussandte.
Und eine neue Sprache war auch schon wieder fällig.
»Ach herrje, jetzt auch noch Japanisch«, stöhnte Inge, als sie den neuen Stundenplan sah.
Damit man sich im künftigen Riesenreich der Wohlfahrtszone auch würde verständigen können, war es ab sofort Pflichtfach an allen Schulen. Inges einzigerTrost war, dass man in Japan vor langer Zeit die chinesischen Schriftzeichen übernommen hatte, die dort Kanji genannt wurden. Die Japaner sprachen sie zwar anders aus und hatten noch eine Lautschrift namens Hiragana dazuerfunden, aber so konnte sie ihren Vorrat an Schriftzeichen immerhin nutzen und erweitern.
Dafür wurde alles Amerikanische aus der Stadt verbannt. Nicht einmal die »Jingle Bells« durften wie sonst das Weihnachtsfest einläuten. Es gab ohnehin wenig Grund zum Feiern: Am ersten Feiertag kam die Nachricht, dass nun auch Hongkong in die Hände der Japaner gefallen war.
***
»Fehlt bei
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