Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torte mit Staebchen

Torte mit Staebchen

Titel: Torte mit Staebchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Hornfeck
Vom Netzwerk:
über den Bambustelegraphen   – verbreitete sich die Nachricht von der Landung der Alliierten in der Normandie. Wer schlau war, konnte den Rückzug der deutschen Wehrmacht sogar am normalen Radio mitverfolgen. Die Russen in Schanghai durften   – dank eines Nichtangriffspakts ihres Landes mit Japan   – ihren Rundfunksender weiter betreiben und berichteten regelmäßig über den Frontverlauf und den Fall wichtiger deutscher Städte. Mit etwas Fantasie ließen sich die Ortsnamen aus dem unverständlichen russischen Redeschwall herauslösen und anschließend im Atlas nachschlagen. Auf diese Weise verfolgten die Finkelsteins den Vormarsch der Alliierten. Den abgegriffenen braunen »Diercke Schulatlas für Höhere Lehranstalten« hatte Wilhelm Finkelstein auf dem Straßenflohmarkt erstanden, wo jetzt immer mehr Emigranten ihre Habe verkauften, um über die Runden zu kommen.
    Immerhin waren Ferien, und man konnte nach halb durchwachten Nächten wenigstens ausschlafen. Inge hätte jetzt jede Menge Zeit für Lieferfahrten gehabt, aber das Geschäft mit der Leberwurst lief schlecht;dem Metzger in Hongkou gingen die Zutaten aus, und den Kunden die Geldmittel. Max engagierte sich jetzt notgedrungen mehr im Zigarettenhandel; und der war, wie er ihr erklärt hatte, Männersache. Das hätte Inge nicht gehindert, auf ihr Rad zu steigen, und in die Bubbling Well Road zu fahren, aber Sanmao musste sich auf die Aufnahmeprüfung an der St. John’s University vorbereiten, er wollte dort ab Herbst Ingenieurwissenschaften studieren. Und dann waren da noch ihre Eltern:
    »Dass das klar ist, Inge, du radelst nicht bei Fliegeralarm in der Stadt herum«, hatte ihr der Vater erklärt.
    »Aber der kommt doch bloß in der Nacht.«
    »Das kann sich jederzeit ändern.« Und das war’s dann.
    In ihrer Langeweile hatte Inge mit den Wang-Kindern eine Spielgemeinschaft gebildet, deren Repertoire sie um einige deutsche Spiele erweiterte; besonders beliebt war »Alle Vögel fliegen hoch«. Während die Wangs diesen deutschen Satz wie ein unverständliches Mantra murmelten und dabei mit den Fingern auf das Mäuerchen trommelten, schrie der Ansager das jeweilige Reizwort auf Chinesisch. Bei
»fēijī«
zum Beispiel   – dem Flugzeug   – rissen alle die Hände hoch. Wer zu langsam war oder bei Wörtern wie
»yèhú«
– Nachttopf   – im Übereifer die Hände hochnahm, musste als Nächster ansagen. Als jemand
»yāzi«
– die Ente   – ansagte, ließ Inge absichtlich die Hände unten.
    »Aber ich kann doch gar nicht fliegen«, erklärte sie zur Verwunderung der Mitspieler unschuldig.
    »Wieso du?«, fragten alle. So erfuhren auch dieNachbarskinder Inges Spitznamen, und bald war sie im ganzen Haus nur noch das »Entlein«, ganz gleich ob auf Deutsch oder Chinesisch.
     
    Eines Vormittags hockte Inge auf ihrem Feldbett und las. Ihrer Meinung nach war das Beste an der Schule die Schulbibliothek, und aus der hatte sie sich ordentlich mit Lesefutter für die Ferien versorgt. Im Moment war sie in »Lady Chatterley’s Lover« im englischen Original vertieft   – in den höheren Klassen eine Art Geheimtipp, von dessen einschlägigen Stellen man sich Aufklärung über so manch dringliche Frage erhoffte.
    Plötzlich das Vorwarnsignal. Inge blickte von ihrem Buch auf. Hatte der Vater wieder mal recht behalten? Kamen die jetzt auch am helllichten Tag angeflogen? Gleich darauf Luftalarm. Vater war in der Backstube, die Mutter ausnahmsweise auch aus dem Haus. Und Inge hatte keine Lust auf Kinderspiele unten im Hof. Die Spiele der Erwachsenen faszinierten sie augenblicklich mehr, sie wollte weiterlesen, in Ruhe, hier oben auf dem Dach. Schließlich war bei diesem ganzen Fliegeralarm noch nie wirklich was passiert.
    Als sie wieder aufblickte, sah sie zum ersten Mal eine dieser fliegenden amerikanischen Festungen aus der Nähe, die Superfortress B 29, jene Langsteckenbomber, die bei nächtlichem Alarm immer nur zu hören gewesen waren. Schlank, mit je zwei Propellermotoren an den langen Flügeln, zogen sie in Formation über den wolkenlosen blauen Himmel. Ihre metallenen Körper blitzten in der Sonne, sogar das Sternenbannerauf dem Leitwerk war zu erkennen. Richtig schön sah das aus. Von unten kläfften die japanischen Flakgeschütze wie wütende Hunde herauf, ohne den hoheitsvollen Zugvögeln jedoch nur im Mindesten gefährlich werden zu können.
    Inge blickte ihnen nach, bis ihr der Nacken wehtat. Dann sah sie, wie die Flugzeuge wie auf Stichwort

Weitere Kostenlose Bücher