Torte mit Staebchen
kleine Kügelchen aus ihren Bäuchen entließen, als legten sie Eier. Plötzlich waren es keine Vögel mehr, sondern gefährliche Bomber, die über den fernen Docks von Wusong ihr todbringendes Werk verrichteten. Schon wenige Sekunden nach dem Aufprall der Bomben schossen wütende Feuer- und Rauchsäulen auf. Das alles vollzog sich in völliger Stille. Das Krachen der Einschläge erreichte erst mit einiger Verzögerung den Dachgarten. Inge hatte genug gesehen. Sie warf ihr Buch aufs Bett und rannte beide Treppen hinunter in den Hof.
»
Wo warst du denn, Yatou?
«, schallte es ihr vielstimmig entgegen. »
Wir wollen mit dir spielen!«
Inge berichtete nicht, was sie gesehen hatte. Vielleicht war es ja doch besser, noch eine Weile in der Welt der Kinderspiele zu verharren.
***
Aber dazu musste man ja nicht unbedingt kindisch aussehen. Schon seit einiger Zeit waren Inge die Zöpfe lästig geworden und mehr noch das morgendliche Ritual, das damit verbunden war. Die Mutter bürstete ihr vor dem Frühstück die Haare durch, hielt nachKopfläusen Ausschau, teilte das Haar dann mit einem ordentlichen Scheitel und flocht es zu zwei festen Zöpfen. Und weil ihr Inge in diesen endlos langen Minuten nicht entwischen konnte, nutzte sie sie regelmäßig zu Ermahnungen und Vorhaltungen aller Art.
Beide spürten, dass dies der letzte Zugriff war, den die Mutter auf ihre Tochter hatte. Und den würde die Mutter nicht so ohne Weiteres aufgeben. Es ging nicht nur um die Frisur, es ging um mehr. Deshalb würde Inge sie vor vollendete Tatsachen stellen müssen, wenn sie ihre Zöpfe loswerden wollte; den Vater konnte sie später immer noch überzeugen.
Als Inge an einem besonders heißen Sommertag auf schweißnassem Kissen erwachte, stand ihr Entschluss endgültig fest: Die lästigen Haare mussten weg! Ein letztes Mal ließ sie die Prozedur mütterlicher Fürsorge und Kontrolle über sich ergehen, dann wartete sie, bis der Vater in der Backstube und die Mutter an der Singer war.
Da das Haareschneiden – zumindest in der Preisklasse, die Inge sich gerade noch leisten konnte – eine öffentliche Angelegenheit war und am Straßenrand stattfand, wollte sie dieses Schauspiel nicht unbedingt im eigenen Viertel darbieten. Wenn schon, dann volles Risiko, dachte Inge, und schwang sich auf ihr Rad. Nachdem sie die Garden Bridge hinter sich gebracht hatte, suchte sie sich in einer der ruhigen Nebenstraßen der Nanking Road einen geeigneten Straßenbarbier. Als sie ihren Wunsch kundgetan hatte, starrte der ältere Chinese, der trotz langjähriger Berufserfahrung offenbar noch nie eine solche Kundin bedient hatte,auf Inges blonde Zöpfe, die ihr bis zur Taille reichten. Er wollte einfach nicht glauben, dass man sich von so schönen Haaren trennen konnte.
»
Willst du die wirklich abgeschnitten haben?«,
fragte er.
»
Deshalb bin ich ja hier. Und jetzt sag, was es kostet.«
Sobald sie auf Geld zu sprechen kam, zweifelte er nicht mehr, dass es ihr ernst war. Preisverhandlungen waren der Auftakt zu jeder geschäftlichen Transaktion. Er überlegte ein Weilchen, und dann schlug er vor: »
Wenn du sie mir lässt, brauchst du nichts zu bezahlen.«
Inge willigte sofort ein, was sie später allerdings bereute, als ihr klar wurde, welch teure Tauschware sie auf dem Kopf mit sich herumtrug.
Fürsorglich wedelte der Barbier mit der Hand die schwarzen Haarbüschel eines vorherigen Kunden vom Stuhl und ließ sie Platz nehmen.
»Wie möchtest du es denn.«
»
Wie die Chinesen
«, erwiderte Inge und meinte damit den klassischen Pagenkopf.
Er ließ die Schere probeweise klappern, bevor er sich an die Zöpfe heranwagte. Nachbarskinder und Passanten hatten sich um die beiden versammelt, um das Schauspiel mitzuverfolgen. Mühsam fraß sich die Schere durch das dicke Haar, und als der erste Zopf fiel, ging ein Seufzen durch die Menge, beim zweiten ebenso. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, brachte der Barbier sein Honorar in Sicherheit, als fürchte er, sie könne es sich anders überlegen. Als das restliche Haar dann in Form geschnitten wurde, balgten sich die Kleinen kreischend um jede fallende Strähne. Inge tat, als bemerke sie das alles nicht, sieblickte starr geradeaus und verfolgte das Geschehen in einem gesprungenen Handspiegel, der an der Hausmauer hing.
»
Und was machst du mit den Haaren?«
Diese Frage konnte sie sich am Ende doch nicht verkneifen.
»
Perücken und Haarteile für die alten Ausländer. Die werden so schnell
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