Torte mit Staebchen
Verliebtsein?
Inge trat in die Pedale. Auf unbeleuchteten Straßen einer japanischen Patrouille zu begegnen, das wäre das Letzte, was sie jetzt brauchte. Sie hatte die Garden Bridge, das Nadelöhr der Strecke, bereits hinter sich und fuhr die Seward Road entlang, die zum Ghetto führte. Hier und in der Parallelstraße, dem hafennahen Broadway, befanden sich die Vergnügungslokale, in denen Matrosen verkehrten. Vor ein paar Jahren hatte Inge sich noch gewundert, warum es hier Ladengeschäfte gab, in denen offenbar nichts verkauft wurde, weil keine Waren im Schaufenster lagen. Inzwischen wusste sie, dass dort durchaus eine Ware feilgeboten wurde: käufliche Frauenkörper, darunter auch viele »Weiße«, denen verzweifelte Armut und Hunger keine andere Wahl ließen.
Als Inge sich fast schon in Sicherheit wähnte, vertraten ihr zwei japanische Matrosen, die eben aus einem der Lokale getorkelt waren, den Weg. Die niederen Ränge ließen die Bewohner Hongkous immer wieder ihre kleine Macht spüren, vor allem, wenn sie angetrunken waren. Und diese beiden ahnten ja noch gar nicht, was für einen Fang sie gemacht hatten.
Inge wusste, jetzt war die Höflichkeitsbezeugung für den Kaiser fällig – vertreten durch diese beiden Prachtexemplare von Untertanen – und sie ahnte, was passieren würde, wenn sie ihre Kappe abnahm. Fastwünschte sie, einer richtigen Militärpatrouille in die Arme gelaufen zu sein. Dieser Moment des Zögerns genügte bereits, um die beiden wütend zu machen. Einer packte Inge an der Schulter, er brachte sein Gesicht dicht vor das ihre und riss ihr gleich selbst die Kappe herunter, dabei schrie er irgendetwas auf Japanisch, das Inge nicht verstand. Auf diese Situation hatte sie ihr Schulunterricht nicht vorbereitet.
Was der Matrose sah, verblüffte ihn so sehr, dass ihm die lallenden Worte im Hals stecken blieben. Ungläubig starrte er Inge mit blutunterlaufenen Augen an und keuchte ihr dabei seinen Alkoholatem ins Gesicht. Dann dehnte sich sein Mund zu einem breiten, lüsternen Grinsen. Er konnte sein Glück kaum fassen, frisches weißes Fleisch, dazu noch kostenlos. Er versuchte, sie mit einer Hand gegen die Hauswand zu drücken, mit der anderen Hand nestelte er an seiner Hose. Plötzlich splitterte Glas, Scherben fielen klirrend zu Boden. Der Matrose fuhr herum.
Sein Kamerad, der sich etwas entfernt gehalten hatte, deutete mit einem erregten Wortschwall auf die gegenüberliegende Fassade, Inge zischte er aus dem Mundwinkel zu: »Schnell weg!«
Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, packte ihr Fahrrad und verschwand in der Dunkelheit.
Zitternd kam sie zu Hause an. Ihre Knie waren so weich, dass sie nicht mehr die Kraft hatte, das Rad nach oben zu tragen. Egal, die Wangs würden schon drauf aufpassen. Von der Treppe hörte sie die Mutter rufen: »Inge, bist du das? Wo warst du denn so lange, Kind?«
Statt einer Antwort warf Inge sich ihr in die Arme, lachte und weinte abwechselnd, ihre neue Frisur hatte sie völlig vergessen. Frau Finkelstein zog Inges Kopf zu sich und fuhr ihr erleichtert durchs Haar. Verwundert wegen des ungewohnten Gefühls schob sie die Tochter auf Armlänge von sich weg und betrachtete sie, aber sie war nur froh, ihre Tochter wiederzuhaben. Dann fielen sie sich gleich noch einmal um den Hals.
Ein Bombensommer
Schanghai, 1945 – Jahr des Hahns
雞
Der Vorfall mit den beiden Japanern ging Inge lange nach. Wenn sie nachts wach auf ihrem Feldbett lag oder mit der Gewissheit erwachte, die Szene im Traum noch einmal durchlebt zu haben, versuchte sie sich immer wieder, darüber klar zu werden, was damals eigentlich abgelaufen war. Sie hatte aus dem Augenwinkel wahrgenommen, wie der zweite Matrose, ihr Retter, sich bückte. Hatte er einen Stein aufgehoben und ihn in die Fensterscheibe des gegenüberliegenden Hauses geworfen? Warum hatte er das für sie getan? Und warum hatte er Deutsch mit ihr gesprochen? Wo hatte er das gelernt? War er in Deutschland gewesen? Hatte er deutsche Freunde? Hatte ein Deutscher ihm vielleicht einmal geholfen?
Er hatte menschlich reagiert und die Macht, mit der ihn seine Nationalität ausstattete, nicht missbraucht, wie sein Kamerad das zweifellos vorhatte. Mit knapper Not war sie einer Vergewaltigung entkommen, und das vermutlich nur, weil ein anderer irgendwann, in ganz anderen Zusammenhängen, einmal menschlich gehandelt hatte. Güte und Menschlichkeit, das begriff Inge jetzt, funktionierten nicht alssimpler Tauschhandel. Da gab es
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