Torte mit Staebchen
grau, und das gefällt ihnen gar nicht.«
Schließlich war ihr Pagenkopf fertig, nur dass sich ihre Haare nicht helmartig um den Kopf legten, wie bei den Chinesen. Befreit aus dem Geflecht der Zöpfe und belebt von der feuchten Luft, ringelten sie sich über den Ohren und legten sich als kesse Locken über die Stirn. Als er fertig war, reichte ihr der Friseur den Spiegel. Inge gefiel, was sie da sah. Sie fuhr sich einmal mit der Hand durch die entfesselten Locken, schüttelte sie kurz und versteckte die neue Pracht dann unter ihrer Kappe. »
Zàijiàn
.« Unter den staunenden Blicken ihres zahlreichen Publikums fuhr sie davon. Gleich nach ihr ließ sich der nächste Kunde im Stuhl des Barbiers nieder: Wenn Langnasen dort arbeiten ließen, bürgte das für Qualität.
Wo sie nun schon einmal hier war, musste sie natürlich unbedingt bei den Fiedlers vorbeischauen. Was Sanmao wohl sagen würde? Sein Kommentar war ihr bei Weitem wichtiger als der von Mutter und Vater. Doch kaum war sie durch die Hofeinfahrt geradelt, als die Sirenen ertönten. Mist! Vorwarnung und gleich darauf Luftalarm. Immerhin war sie von der Straße weg, wo man sich während des Fliegeralarms nicht erwischen lassen durfte. Da kam auch schon Herr Fiedler aus dem Haus gekeucht, so kugelrund undherzensgut, wie sie ihn kannte. Er hielt sich nicht mit langen Begrüßungen auf, sondern schob sie vor sich her in den Schutzraum, den er für die Familie und die Caféhausgäste in einem Lager im Hinterhof eingerichtet hatte. Gleich darauf trafen auch Frühlingserwachen und Sanmao ein, die sich zuerst um ihre Gäste kümmern mussten. Als Sanmao Inge in ihrer Ecke entdeckte und sich neben ihr niederließ, war der Moment der dramatischen Enthüllung endlich gekommen.
»Yatou, was machst du denn hier? Wie gut, dass du’s vor dem Alarm zu uns geschafft hast.«
Statt einer Antwort riss sie sich die Mütze vom Kopf. »Bin ich jetzt immer noch dein Entenkopf?«
Er starrte sie mit offenem Mund an, verschlang sie mit Blicken, konnte sich gar nicht sattsehen und brachte dabei kein Wort heraus.
Zögernd streckte er die Hand aus, um die widerspenstigen Locken durch die Finger gleiten zu lassen. Inge hielt den Atem an.
»Das ist ’ne Wucht, Yatou, äh, ich meine, das ist wirklich …«, stammelte er, als er sich wieder gefasst hatte. »Das ist
fēicháng piàoliang
. Yatou darf ich jetzt nicht mehr zu dir sagen, das passt wirklich nicht.«
»Wie wär’s mit Inge«, sagte sie, jeden Moment seiner Verwirrung auskostend.
Dicht aneinandergedrängt hockten sie in ihrer Ecke; Sanmao hatte den Arm schützend um ihre Schulter gelegt. Lange saßen sie so. Die Caféhausgäste um sie herum waren vergessen. Da es vornehmlich Weiße waren, unterhielten sich die beiden weiterauf Chinesisch, man konnte ja nach Belieben wechseln, sie redeten über Sanmaos Prüfungen, über die schleppenden Geschäfte – auch im »Café Federal« – und natürlich über die Amerikaner. Schließlich sagte Inge:
»Das Problem ist, dass ich nicht mehr kommen kann, wegen des Fliegeralarms. Meine Eltern lassen mich nicht weg.«
»Dacht ich mir, ich hab dich vermisst. Aber natürlich haben sie recht. Es ist einfach zu gefährlich.«
Ach, Sanmao, sei doch nicht immer so vernünftig!, dachte Inge. Immerhin vermisste er sie.
»Aber blöd ist es schon«,
schob sie nach und schüttelte probeweise ihre neuen Locken. Ein herrliches Gefühl war das, vor allem, wenn man damit Sanmaos Wangen streifen konnte.
Dann kam das Entwarnungssignal. Zum ersten Mal hörte Inge es mit Bedauern. Als sie aus dem Schutzraum traten, fuhr ihr der Schreck in die Glieder: Draußen dämmerte es bereits. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war.
»Ich muss los, Sanmao.«
»Schaffst du es noch vor der Ausgangssperre? Willst du nicht lieber bei uns bleiben?«
Inge hätte nichts lieber getan, aber es ging nicht.
»Meine Eltern wissen nicht, wo ich bin. Die ängstigen sich zu Tode, wenn ich nicht heimkomme.« Im Café gab es zwar ein Telefon, aber natürlich nicht bei den Finkelsteins. Sanmao zog sie an sich. Einen süßen, langen Moment lang schmiegte sie sich an ihn. Dann riss sie sich los.
»Pass auf!«, rief er ihr nach, als sie durch die Toreinfahrtzurückschaute. Auch Sanmao war in letzter Zeit in die Höhe geschossen, seine Gesichtszüge wirkten klarer und bestimmter als früher. Die verwirrende Zuneigung, die sie für diesen schlanken jungen Mann empfand – war das
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