Torte mit Staebchen
brachte trotz allem stets ein ordentlichesZeugnis nach Hause, außer in Betragen. Sie machte das sozusagen mit Links – kein Wunder, wo sie doch Linkshänderin war.
Frau Finkelstein hatte ihr Pulver aber noch längst nicht verschossen.
»Ständig steckst du mit diesem Max zusammen. Ein richtiger Kleinkrimineller, wenn du mich fragst.«
»Ich frag dich aber nicht, Mama. Und du fragst besser auch nicht, wie Max, unser Beschaffungskünstler, den neuen Treibriemen für deine Singer aufgetrieben hat. Eigens herbeigeradelt aus der Franzosenstadt durch deine Tochter, die Lohnkutscherin Inge Finkelstein, genannt Entlein.«
»Du nimmst mich überhaupt nicht ernst«, empörte sich Frau Finkelstein, dann seufzte sie resigniert: »Ach, warum war es mir nicht vergönnt, meine Tochter in Deutschland ordentlich großzuziehen.«
»Das kann ich dir genau sagen: weil du den deutschen Juden Wilhelm Finkelstein aus Brandenburg geheiratet hast, und weil ein kleiner Irrer aus Österreich uns daraufhin allesamt von dort vertrieben hat. Aber mal ehrlich. In so einem Land will man doch nicht wohnen bleiben, oder?«
Jetzt aber genug. Als Inge den ehrlich verzweifelten Gesichtsausdruck der Mutter sah, stand sie auf und legte ihr schützend den Arm um die Schultern. Mit ihren mittlerweile sechzehn Jahren war sie fast schon einen Kopf größer als Frau Finkelstein. »Das musst du so sehen, Mama: Als kollektive Erwerbsgemeinschaft sind wir doch unschlagbar, du an der Singer, Papa am Backofen und ich auf dem Rad. Kleidung,Nahrung und Transport, wir decken alle wichtigen Geschäftszweige ab. Uns kann so schnell keiner was. Wir, die Stehaufmännchen vom ›Mensch-ärgere-dich-nicht!‹.«
Da konnte selbst Frau Finkelstein ein schmallippiges Lächeln nicht unterdrücken.
***
Zumindest mit dem Transportwesen war es nicht mehr so einfach, als im Mai neue Luftschutzbestimmungen erlassen wurden:
Vorwarnung: 2 Minuten Dauerton
Luftalarm: 7 Tonsignale von je 5 Sekunden
Entwarnung: 2 Tonsignale von je 15 Sekunden
Dazu verschärfte Ausgangssperre und Verdunklung. Nach Sonnenuntergang mussten alle Fenster mit Verdunklungspapier oder schwarzem Stoff verhängt werden, damit der Feind keinen Lichtschein wahrnahm – welcher Feind? Ferner wurde das richtige Verhalten bei Fliegeralarm in Luftschutzübungen trainiert – was für Flieger?
Und worin bestand richtiges Verhalten bei Fliegeralarm, wenn es keine Schutzräume gab? Nur das Ward Road Gefängnis verfügte über einen Keller, doch kaum jemand begab sich freiwillig dorthin. Die sogenannten Luftschutzgräben, die die Bao Jia – der Ordnungsdienst, zu dem alle erwachsenen Männer des Ghettos verpflichtet waren – hatten ausheben müssen,waren ein Witz. Bei Regen liefen sie voll Wasser, und ansonsten dienten sie zur Müllentsorgung. Und weil in letzter Zeit – ob nun aus Sicherheits- oder Sparsamkeitsgründen – immer wieder die Straßenbeleuchtung ausfiel, lief man nach Einbruch der Dunkelheit ständig Gefahr, dort ein unfreiwilliges Bad zu nehmen.
»Was sollen wir denn machen, wenn die Sirenen losgehen, Papa?«, erkundigte sich Inge. Immerhin war ihr Vater der Einzige mit Kriegserfahrung.
»Jeder packt eine Tasche mit Papieren und Wertsachen, Wäsche zum Wechseln und so. Die nehmen wir dann mit nach unten. Auf jeden Fall muss man runter ins Erdgeschoss, am besten nach draußen, oder sich in einen Türrahmen stellen; da sind die Häuser am stabilsten.« Dabei wanderte sein Blick zweifelnd über die windige Konstruktion des Wang’schen Hauses.
»In meine Tasche muss unbedingt die Gundel rein.« Inges alte Puppe diente weiterhin als Familientresor. »Dann denken alle, ich bin ein bisschen zurückgeblieben und spiel noch mit Puppen.« Inge steckte den Daumen in den Mund, drehte die Zehenspitzen nach innen und schaute recht blöd.
»Mach keinen Quatsch. Das ist ernst.«
»Wer soll denn eigentlich kommen?«
Obwohl sie sich in den eigenen vier Wänden befanden, blickte ihr Vater sich vorsichtig um, dann beugte er sich zu seiner Tochter vor und flüsterte: »Der Kollege mit dem Kurzwellenempfänger hat gehört, dass die Amerikaner bis auf die Marianen vorgestoßen sind. Sie sind auf Guam und zwei anderen Inselngelandet. Wenn die dort erst mal Fuß gefasst haben, ist die Strecke nach Japan und zurück für ihre B-2 9-Superfortress kein Problem mehr. Also werden sie den Feind bald bei sich zu Hause bombardieren können, und natürlich auch die von ihm
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