Torte mit Staebchen
der Wahl zwischen einer kühlenden, süßen Suppe aus Mungobohnen und weißen Mu-er-Pilzen oder einer Portion frischer Teigtäschchen mit Chinakohl-Hackfleischfüllung, als das Dröhnen eines B-2 9-Geschwaders die Luft erfüllte, gleich darauf huschten die gespenstischen Schatten der Flugzeuge über die sonnenbeschienene Straße. Warum fliegen die heute so tief?, fragte sich Inge, die sind ja direkt über uns. Dann erst hörte sie den Luftalarm. Na danke, wem soll der jetzt noch nützen! Luftabwehrgranaten heulten. Die Uhr über dem Eingang der Markthalle zeigte 12:50, diese völlig nutzlose Information prägte sich Inge ein. Sie war sich sicher, dass die Bomber weiterfliegen würden, wie sie es immer taten, in einen der Industrievororte oder zu den Hafenanlagen, wo sie ordentlich Schaden anrichten konnten. Da krachte es so laut, dass jeder weitere Gedanke sofort verpuffte. Die Erde bebte. Inge wurde von der Druckwelle einer Explosion an die Hauswand gepresst. Sie musste in unmittelbarer Nähe stattgefunden haben, Leute rannten mit erhobenen Armen und offenen Mündern an ihr vorbei, doch sie hörte nichts. Um sie herum war nichts als wattige Stille. Instinktiv ließ sie sich zu Boden rutschen und kroch unter den improvisierten Ladentisch der nächsten Imbissbude. Benommenund mit tauben Ohren kauerte sie zwischen der Abfalltonne und einem Stapel Briketts, ein Platz, den sie sich mit einem zitternden Straßenhund teilte. Er war grau, völlig abgemagert und zitterte mehr als Inge. Der muss von der Rennbahn sein, schoss es Inge durch den Kopf. Natürlich hatten die Japaner die Hunderennen verboten, und jetzt streunten die Stars von damals auf der Suche nach Futter durch die ganze Stadt.
Doch die silbernen Vögel hatten ihre Mission noch nicht beendet. Weitere Einschläge folgten, Glasscheiben klirrten, Menschen suchten sich in Sicherheit zu bringen. Gleich würde alles um sie herum in die Luft fliegen. Inge kniff fest die Augen zu, um es nicht mitansehen zu müssen. Doch nichts geschah. Eine gespenstische Stille hatte sich über die Szene gelegt, in ihren Ohren läuteten ganz laut die Glocken. Glocken in Hongkou? War das das Jüngste Gericht?
Brandgeruch holte sie in die irdische Gegenwart zurück. Inge hätte nicht sagen können, wie lange sie schon in ihrem Versteck hockte. Der Hund hatte seine spitze Schnauze auf ihr Knie gelegt; er schien mindestens so viel Angst zu haben wie sie.
Dann endlich hörte sie wie aus weiter Ferne die Sirenen der Entwarnung. Sie rappelte sich hoch, schob den Hund beiseite, dessen Flanken noch immer bebten, und rannte nach Hause. Alle anderen rannten auch.
Inge hetzte durch die Lane, dann durch den Hausgang, dann die Treppe hinauf. »Mama! Mama?«
»Hier bin ich! Bist du heil?«
Zum Glück war auch der Vater zu Hause. Sobald Inge sich überzeugt hatte, dass beide unverletzt waren, begann Inge zu zetern: »Sind die denn verrückt geworden? Wollen die uns umbringen?«
»Sei froh, dass wir nichts abgekriegt haben«, beruhigte sie Herr Finkelstein. Er kannte seine Tochter; erschrocken oder in die Enge getrieben, schimpfte sie sich ihren Schreck von der Seele. Sie hatte ja recht, doch für Debatten war jetzt keine Zeit. »In der Tangshan Road hat es mehrere direkte Treffer gegeben. Leute sind verschüttet, Häuser brennen. Ich muss helfen, mit den Leuten vom Ordnungsdienst.«
»Ich komme mit.«
»Du bleibst bei deiner Mutter. Diesen Anblick ersparst du dir besser.« Der Ton des Vaters duldete keinen Widerspruch.
Als er weg war, machten Mutter und Tochter sich erst mal einen Tee. »Ausnahmsweise mit Zucker, das hilft gegen Schock«, wusste die Mutter und rührte in jede Tasse einen kleinen Löffel der begehrten Süße.
Allmählich merkte Inge, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie schnitt sich eine Scheibe von dem Brotlaib, der zum Schutz vor Ungeziefer in einem Stoffbeutel von der Decke hing. Als Mutter und Tochter am Tisch saßen und die Anspannung langsam von ihnen abfiel, fragte Inge mit vollem Mund: »Hast du Laifu gesehen?«
»Zuletzt auf dem Dach, als ich Wäsche aufgehängt habe. Aber das war am Vormittag, vor dem Angriff.«
Noch kauend, kletterte Inge die Stiege zum Dach hinauf. Kein Kater. Sie sah an seinen bevorzugtenSchlafplätzen nach, suchte alle ihr bekannten Verstecke ab, lockte, rief, klapperte mit seinem Fressnapf – eine sonst fast immer erfolgreiche Methode – und schaute sich auch auf den benachbarten Dachgärten um. Kein Kater.
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