Torte mit Staebchen
ein Koffertisch, auch wenn er jetzt vier Beine hat«, hörte Inge sich sagen. Eigentlich hatte sie abwarten wollen, bis die Eltern ihre Vorstellungen geäußert hatten. Aber indem Drang, den eigenen Standpunkt klarzumachen, war sie zu weit vorgeprescht, jetzt gab es kein Zurück mehr. »Ihr habt euch hier doch nie zu Hause gefühlt, ihr wart immer nur auf der Durchreise. Eigentlich habt ihr gar nicht mitgekriegt, dass wir in China leben. Das hat euch nie interessiert.« Als sie das entsetzte Gesicht ihrer Mutter sah, bereute sie ihren Ausbruch. »Ich weiß, dass ihr anderes zu tun hattet. Ihr habt mich und die Familie durchbringen müssen, das war schwer genug. Ich will ja nur sagen: Ich mag es hier, ich mag die Leute, ich mag die Sprache, ich will dableiben.« Endlich war es heraus.
Frau Finkelstein schlug die Hände vors Gesicht: »Haben wir das alles durchlitten, damit wir am Ende die Tochter verlieren?«, stieß sie unter Schluchzen hervor.
»Aber, Mama, ihr verliert mich doch nicht. Ich will bloß nicht schon wieder in ein fremdes Land.«
»Du bist in einem fremden Land.«
»Nein, bin ich nicht. Schanghai ist meine Stadt. Ich habe hier fast so lange gelebt wie in Brandenburg.«
»Wie stellst du dir das vor, Inge?«, meldete sich Herr Finkelstein, die Stimme der Vernunft.
»Nächstes Frühjahr bin ich mit der Schule fertig. Und danach würde ich am liebsten ordentlich Chinesisch lernen und diese Sprache und Kultur studieren. Das kann man an der St. John’s University, da, wo auch Sanmao eingeschrieben ist. Ich weiß, dass ihr mich finanziell nicht unterstützen könnt, aber ich könnte nebenher in einem Kindergarten arbeiten.«
Inge war selbst überrascht über den fertigen Plan,den sie da aus dem Ärmel schüttelte. Aber wenn sie in sich hineinhorchte, war es genau das, was sie am liebsten tun würde. »Ich kann’s mit kleinen Kindern, Mama, das weißt du doch. Damals, als sie mich in den Kindergarten der Kadoori-Schule gesteckt haben, musste ich immer mit den Kleinen spielen. Die folgen mir wie die Lämmlein, ganz egal in welcher Sprache.«
Daran hatte Frau Finkelstein keinen Zweifel, man musste nur die Wang-Kinder ansehen, die Inge ständig am Rockzipfel hingen.
»Aber warum hier in Schanghai? Und wieso willst du unbedingt diese unmöglichen Schriftzeichen lernen.«
»Die sind nicht unmöglich, die sind sehr praktisch, sie werden von vielen Menschen benutzt, und das schon sehr lange. Es muss doch Leute geben, die dolmetschen, übersetzen, für Verständigung sorgen.«
»Das kann jemand wie Sanmao machen, dem wurde das in die Wiege gelegt.«
»Der will das aber nicht, offenbar gerade deshalb, weil es ihm in die Wiege gelegt wurde. Aber mich interessiert diese Sprache.«
»Und wir?«, fragte Frau Finkelstein verletzt. »Spielen wir in deinen Plänen überhaupt keine Rolle?«
»Doch, Mama, natürlich. Das ist mir alles bloß so rausgerutscht, und es tut mir ja auch leid. Ich hätte es euch schonender beibringen sollen, aber trotzdem ist es wahr. Es ist genau das, was ich tun möchte. Und was habt ihr euch gedacht?«, schob sie anstandshalber nach.
»Nett, dass du dich erkundigst. Wenn’s nach mirgeht, verlassen wir diese Stadt lieber heute als morgen.«
»Lass uns sachlich bleiben, Marianne«, schaltete sich der Vater ein. »Hier kann jeder seine Meinung sagen, dazu ist ein Familienrat da. Und es stimmt schon, was Inge sagt. Schanghai war für uns nie eine Perspektive, aber eine Rückkehr nach Deutschland kommt erst recht nicht infrage. Deine Mutter und ich sehen unsere Zukunft eher in den USA oder in Kanada, wenn’s sein muss auch in Australien. Ein Neuanfang wird es allemal. Aber natürlich sind wir davon ausgegangen, dass wir gemeinsam fahren.«
Aha, die Eltern hatten sich also auch ihre Gedanken gemacht.
»Warum soll ich mich irgendwo neu eingewöhnen, wo’s mir hier doch gut geht? Wozu habe ich Chinesisch gelernt?«
»Aber du kannst doch nicht allein in Schanghai leben, du bist gerade mal achtzehn.«
»Warum nicht? Außerdem bin ich nicht allein. Da sind ja noch die Fiedlers. Vielleicht könnte ich wieder bei denen einziehen.«
»Du kannst dich doch nicht fremden Leuten aufdrängen.«
»Das sind keine fremden Leute. Frühlingserwachen ist so was wie eine Patentante für mich. Und Sanmao ist wie ein Bruder.« Hier schluckte Inge.
»Das mag ja sein«, räumte ihr Vater ein. »Aber China ist politisch instabil. Der Krieg mit den Japanern ist zu Ende, aber da sind ja auch noch die
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