Tortengraeber
Bezug einer neuen Wohnung – untergekommen sei.
Eine gute Frage, dachte sich Vavra und machte ein hilfloses Gesicht.
»Hör auf, weiter auf das Saccharin zu schielen«, ermahnte Liepold ihre Mutter, welche behauptete, an Diabetes zu leiden, was natürlich Unsinn war, aber von ihrer Tochter weidlich ausgenutzt wurde. Diabetes oder Würfelzucker – so einfach war das. Zufrieden wandte sich Liepold wieder an Vavra, fragte ihn, ob er denn nicht zu seiner Familie ziehen werde.
»Meine Eltern sind tot.«
»Sei so gut, Mutter, sag jetzt nichts.«
Mutter schwieg in den mäßig gesüßten Kaffee hinein.
Vavra erklärte, er werde wohl die erste Zeit in ein Hotel gehen müssen. Und könne nur hoffen, daß es nicht allzu schwierig sein würde, ein freies Zimmer zu finden.
»Es wird schwierig sein. Die Italiener«, sagte die Alte, und damit schien für sie auch bereits alles erklärt. Dann sah sie ihre Tochter vielsagend an, neigte sich zu Vavra und erklärte, daß in dieser Wohnung hier, die ja für sie und Ingrid viel zu groß sei, auch eine Art Gästezimmer existiere, ein kleiner, nicht besonders attraktiver Raum, sauber im Rahmen der Möglichkeiten ihrer unmöglichen Tochter, immerhin mit einem Blick auf den Hinterhof, ein ruhiges Zimmer also, das man ihm gerne zur Verfügung stelle, bis er eine Wohnung gefunden habe. Sie wolle nicht aufdringlich erscheinen, aber einem so lieben Menschen sei man das schuldig.
»Fürchterlich, wie du schleimst«, sagte Liepold.
»Auch wenn du dagegen bist, das ist noch immer meine Wohnung. Oder?«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich dagegen bin, sondern daß du schleimst wie eine Nacktschnecke.«
»Beleidigen, das kannst du.«
»Tut die Wahrheit denn so weh?«
»Wahrheit?« fragte sie, wie man fragt: umsonst?
Nicht zu ertragen, dachte Vavra. Andererseits konnte er das Angebot kaum ausschlagen. Er hatte kein Geld, keine Papiere, keine Unterkunft, und von einem Hotel konnte nicht wirklich die Rede sein. Er wußte weniger denn je, was vor sich ging, ob Steinbecks Leute ihn bereits suchten oder die Justiz, endlich von seiner Unschuld überzeugt, ihn auf die Straße geworfen hatte, damit er am Rand der Gesellschaft – obdachlos, mittellos, im Dreck bald selbst ein Stück Dreck – Ruhe gab, Ruhe geben mußte. Er war immer überzeugt gewesen, daß die Leute selbst dafür verantwortlich waren, wenn sie auf der Straße landeten, Subjekte, die sich auf Arbeitsplatzverlust und Scheidung, Mietwucher und Versandhäuser herausredeten, denen aber in Wirklichkeit ein konventionelles Leben viel zu anstrengend war, die die Gosse den Kraftakten vorzogen, die nötig waren, um eine bürgerliche Existenz zu erhalten. Und davon wollte er weiterhin überzeugt sein. In die Gosse würde er sich nicht verschieben lassen. Unter keinen Umständen. Er wollte kämpfen. – Kämpfen, daß ihm Gerechtigkeit widerfahre? Zwischenzeitlich klang das auch in seinen Ohren ein wenig blöde. Er war zwar nicht ausgelöscht, aber durchgestrichen worden. Es würde schwer werden, eine Rücknahme dieser Streichung zu erzwingen. Aber irgend etwas mußte er tun, wenn er ebenjenes Gossenschicksal vermeiden wollte. Also erklärte er, daß er das Angebot gerne annehme.
Ingrid Liepold fand es zwar merkwürdig, daß einer – geschockt durch den auf ihn begangenen Überfall – seine Wohnung aufgab, um dann, nur Meter entfernt, als Untermieter dem Ort des Schreckens nahe zu bleiben. Aber ein Mann im Haus, der weder Ehemann noch Liebhaber war und nicht allzu lange bleiben würde, das war nicht das Übelste. Besser, als immer nur alleine mit Mutter zu sein, deren Geraunze, soziologische Ausführungen und ein erwiesenermaßen eingebildeter Herzklappenfehler ihr den Nerv töteten. Zudem: ein Mann war ein Publikum. Mehr brauchte eine gute Stripteasetänzerin nicht. Sie würde Vavra ihre sämtlichen Nummern vorführen, auch die gewagteren, worunter sie eine experimentelle oder akrobatische Note verstand. Und sie wollte präzisere Kommentare aus ihm herauslocken, mehr, als daß er ihre Show »durchaus interessant« fände. Ehrgeiz brandete auf. Sie wollte ihn begeistern, ganz gleich, was für eine Art von Versager er war. Er war das Publikum. Und das Publikum hatte immer recht.
Vavra verbrachte den Rest des Tages in seinem Zimmer, das tatsächlich recht klein war und in dem es nach alter Frau roch, ein Geruch, der dem Raum eine feste Struktur gab wie Betonstahlmatten: Schokolade, Knoblauch, geschälte Äpfel, Brausetabletten, dazu
Weitere Kostenlose Bücher