Tortengraeber
Katzenfelle, aber auch der Gummigeruch einer Wärmflasche, der Brandgeruch einer Heizdecke, der Fäulnisgeruch einer Matratze, in die der sterbende Mensch quasi eingesickert war. Das war das letzte Zimmer von Frau Grabows Schwester gewesen, unverheiratete Mikl, deren langer, schmerzvoller Tod Frau Grabow vergönnt gewesen war.
Nachdem Vavra trotz Eiseskälte eine Stunde gelüftet und mittels mehrerer Bögen Geschenkpapier, einem aufgetrennten Exemplar des Stern und zweier Wolldecken zwischen sich und diesem Sarg von einer Matratze eine Barriere geschaffen hatte und nachdem er einen altertümlichen Lokkenformer, in dem ein paar grünstichig-weiße Haare steckten, in ein Papier gewickelt und unter den Kasten geklemmt hatte, legte er sich nieder und schlief ein, wie man eben einschläft, auch in Schützengräben, auch in Flugzeugen.
Nach neun Uhr abends erwachte er mit dem Gefühl, der Miklsche Tod sei ihm in die Knochen gefahren, vielleicht auch nur das Gift eines langen Lebens oder die hämische Lust der krankenpflegenden Schwester, die wie Staub auf den Gegenständen lag, auf jeden Fall kam es ihm so vor, als seien seine Gelenke angesägt worden. Er kämmte sich durch die Haare, die die breite, glatte Bahn auf seinem Schädel begrenzten, stieg in den einzigen Anzug, der ihm verblieben war, und fragte sich, was aus seiner restlichen Kleidung, seinem Sparbuch, seinem ganzen Besitz geworden war, wenn überhaupt irgend etwas die Polizeiaktion heil überstanden hatte. Und wenn er überhaupt noch in der Lage war, auf irgend etwas Anspruch zu erheben. Er mußte von nun ab vorsichtig sein. Er war aus dem Nest gefallen. Er würde schnell lernen müssen.
Die beiden Damen saßen zwischen ihren Puppen und sahen auf den Fernseher. Als Vavra eintrat, beachteten sie ihn kaum, zu sehr waren sie darauf konzentriert, dem brisanten Bericht zu folgen, der nach armseligen Headlines – zwischen Steuerreform und wenig erregenden sexuellen Verfehlungen –, nach meteorologischem Lamento und jenen geistigen Überschüssen, die unter Kultur subsumiert werden, endlich dorthin zurückführte, wo Reportage ihre wirkliche Bedeutung besaß, nämlich nicht in der Skandalisierung des Banalen, auch nicht des Außerordentlichen, sondern in der Skandalisierung des Offensichtlichen. Nirgends war das Offensichtliche, auch seine Mystik, auch seine dunkle Seite, so rein und klar wie im Sport.
Der Herr Vavra machte es sich, weitab der Frauen, auf einem Sofa, das merkwürdig tief lag, bequem. Freilich konnte von wirklicher Bequemlichkeit keine Rede sein. Er fühlte sich beobachtet, auch wenn die Damen gebannt auf den Fernseher sahen. Er wollte nicht glauben, daß sich die beiden für Sport interessierten, hatte Liepolds abfällige Bemerkung noch im Ohr.
Als wäre er neben einem Leidensgenossen zu sitzen gekommen, befand sich auf dem Sofa ein nach hinten geneigter, rumpfhoher Stapel Tageszeitungen. Vavra steckte sich eine Zigarette in den Mund, die dort aber steckenblieb, ohne angezündet zu werden. Er griff sich mehrere Zeitungen, die er auf seinem Schoß ablegte. Wollte herausfinden, ob in der Zeit seiner Verhaftung die Entführung publik geworden war. Und wurde in einem mehrere Wochen alten Blatt auch fündig. Über dem Gesicht eines Mädchens, das beinahe die gesamte Titelseite einnahm, prangte das Wort Verhungert .
Vavra hatte zuerst gemeint, es handle sich um eine jugendliche Sportlerin, so breit war ihr Lachen, so durch und durch gesund und alpenländisch straff wirkte ihr Antlitz. Zu einem solchen Gesicht wollte ein Begriff nicht passen, den man mit jener Katastrophenromantik verband, die den spendewilligen Menschen rührte und angesichts zum Wohlstand drängender Völker auch irgendwie beruhigte. Aber wie konnte das gemeint sein: eine Skirennläuferin verhungert?
Erst im Blattinneren wurde Vavra klar, daß Sarah Hafner tot war, daß man ihre Leiche, zwei Wochen nachdem der Kontakt zu den Entführern abrupt abgebrochen war, im versperrten Raum einer Kellerwohnung aufgefunden hatte. Nach Angaben der Polizei war sie in dem kalten, vollkommen dunklen Verlies ohne Nahrung gewesen. Warum die Entführer ihre über Telefon abgewickelten Verhandlungen mit der Industriellenfamilie Hafner beendet und das Opfer seinem Schicksal überlassen hatten, war unklar. Erste Spekulationen über ein Fehlverhalten der Polizei machten die Runde, da man annahm, die Entführer hätten die plump durchgeführten Vorbereitungen der Beamten beobachtet und daraufhin die
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