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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Wiese, und das, obwohl sein Körperbau dem bademeisterlichen Klischee in idealer Weise entsprach. Aber man nahm ihm den Rechtsanwalt ab, so wie man ihm den Psychoanalytiker abnahm, der er ja wirklich war.
    Die Wiener Bürokratie ist ein Chaos, in der ein Titel und eine diesem Titel gemäße Physiognomie und Etikette eine ordnende Größe darstellen, an die man sich halten, an der man sich tatsächlich festhalten kann, während der Boden unter einem schwingt. Auch wenn die wienerische Titelkultur anderswo belächelt wird – woran wollte man sich sonst orientieren? An nie erlernten demokratischen Spielregeln? An Uniformen, wo solche doch heutzutage kaum noch getragen werden? Und wenn, dann sehen sie nach nichts aus. Woran sollten die Menschen einen Anlaß für Achtung oder Verachtung bemessen? Am bloßen Gesicht des Gegenübers? An seinen geputzten Schuhen? Gesichter und geputzte Schuhe kann ein jeder haben. Vielleicht glauben die Deutschen, geputzte Schuhe könnten eine Gesellschaft zusammenhalten. In Österreich denkt das niemand.
    In derselben Nacht brachten Rad, Wiese und Gähnmaul die Leiche in die Taubenhofgasse. Ihnen war, als bewegten sie sich mit um den Hals gelegter Schlinge. Gähnmaul besaß die Schlüssel des jüngst verstorbenen Antiquitätenhändlers, dessen mit Altwaren vollgestopfte Wohnung im Parterre des hinteren Hauses lag. Allerdings entschieden sie sich dann für die darunterliegende Kellerwohnung, die dem Händler einst als Lager gedient hatte und für die Gähnmaul ebenfalls einen Schlüssel besaß. Das Risiko, entdeckt zu werden, war gering. Die ganze Taubenhofgasse, eigentlich der ganze Bezirk befand sich nach neun Uhr in einer dorfähnlichen Narkose. Mochte diese Metropole irgendwo nächtens pulsieren, hier tat sie es nicht. Hier schliefen sogar die Querulanten.
    Sosehr man sich auf die Wirkung von Titeln verlassen kann, so unsicher ist die Einhaltung kriminaltaktischer Richtlinien. Gut möglich, daß Vavra, hätte man ihn nach dem Besuch des angeblichen Anwalts Dr. Grisebach einer scharfen Befragung unterzogen, die Taubenhofgasse erwähnt und sich vielleicht auch tatsächlich der Entführung bezichtigt hätte. Um keine Möglichkeit auszulassen. Die Möglichkeit, ein Verbrecher zu sein. Doch zum Unglück der Lukasrunde ging zur selben Zeit, da Wiese Vavra bearbeitete, eine Weisung an die Vernehmungsorgane. Es hieß schlicht: Vavra fallenlassen. Womit gemeint war, daß sich Vavra für die Täterrolle als unattraktiv erwiesen hätte. Und in jeder Hinsicht unglaubwürdig sei. Und daß es verrückt gewesen wäre, selbstmörderisch, mit einer solchen Person an die Presse, an die Öffentlichkeit zu treten. »Fallenlassen« bedeutete allerdings keine sofortige Freilassung.
    Und dann wurde Sarah gefunden. Im Zuge der Entrümpelung des Kellers waren Arbeiter auf die Leiche gestoßen. Eine derart dramatische Wendung des Falls bedurfte zweifellos einer ebenso dramatischen Lösung. Die Ostbandenlösung war nun zwingender denn je. Neben der finanziellen Dimension ergab sich gerüchteweise auch eine politische. Die Person Vavra brauchte da nicht einmal mehr als Notnagel zu dienen. Der Mann besetzte eine aus Steuermitteln subventionierte und aus Platz- und Sicherheitsgründen in einem Spital eingerichtete Gefängniszelle. Seine Entlassung war eine Frage der Vernunft. Und wer wollte nicht vernünftig sein. Also katalogisierte man Vavra unter Ausschuß, was bedeutete, daß er noch eine gewisse Zeit in Haft blieb, um jeglichen Übermut abzubauen. Danach würde man ihn unbürokratisch auf die Straße setzen, wo er selbst weitersehen sollte.
    Hufeland, der davon erfuhr, wollte sich nun nicht darauf verlassen, daß Vavra – froh über seine Entlassung, froh, noch alle Zähne im Maul zu haben – die Angelegenheit auf sich beruhen ließ und nicht weiter darüber nachdenken wollte, warum man die Leiche Sarah Hafners tatsächlich in der Taubenhofgasse aufgefunden hatte. Gut, es war die Regel, daß Leute wie Vavra sich ins Vergessen flüchteten. So war der Mittelstand nun mal. Dort, wo das mittelständische Gedächtnis sich befinden sollte, war eine ausgehobene Grube. Aber was, wenn Vavra die berüchtigte Ausnahme war, sich einbildete, zu allem Unglück nun auch noch die Wahrheit erfahren zu müssen? Hufeland wollte vorsorgen, diesmal aber wieder auf Professionisten vertrauen. Ein Vertrauen, das enttäuscht wurde. Denn als Vavra freikam, da sollten sich die Katecheten seiner annehmen, ihn daran erinnern, daß die

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