Tortengraeber
leere Autobushaltestelle. Vavra verlangsamte seinen Schritt. Konnte aber nicht verhindern, ebenfalls an der Station zu stehen zu kommen, eine ganze Weile zu warten, allein mit diesem Mann, der eine Waffe unter seinem Mantel trug. Plötzlich stand Vavra der Schweiß auf der Stirn. Das Unbehagen, das er verspürte, war von einem Gefühl der Peinlichkeit unterlegt. Die Haltestelle war wie die einsame Insel, auf die sie beide gespült worden waren, zwei Männer, die man einander nicht vorgestellt hatte, auf einem winzigen Strand nebeneinanderstehend, Hände in den Taschen, Blick aufs Meer, eine Witzblattsituation. Vavra sah die Fassade aufwärts, hinauf in den Himmel, hinüber zur Ampel, vermied aber, in die Richtung zu schauen, aus welcher der Bus kommen würde. Denn dort stand ja der andere, dem er nicht ins Gesicht sehen wollte, aus der Befürchtung heraus, er würde auf eine unmögliche Weise auf sich aufmerksam machen, etwa in einen Lachkrampf verfallen. Es war das gleiche Gefühl wie damals bei seinem ersten kleinen Rendezvous, die eigene Gesichtsmuskulatur nicht im Zaum halten zu können, willenlos Grimassen zu schneiden. Darin bestand seine Angst: sterben zu müssen, nicht so sehr, weil er sich verriet, sondern indem sein Auftreten als ungehörig empfunden wurde. Tod durch schlechtes Benehmen.
Doch Vavra hielt durch. Und als er endlich in den Bus stieg, empfand er die Befreiung derart, als brauche er nicht länger auf blutigen Zehenspitzen zu stehen. Wagte es sogar, sich direkt hinter den anderen zu setzen und in seinen Nacken zu schauen. Der Schädel war leicht nach vorn gerichtet. Der Mann drohte einzunicken. Woran sich nichts änderte, als der Klang von Sirenen anschwoll und die Fahrgäste begeistert ihre Hälse reckten. Sie lauschten der Verkündigung der Metropole, die in den Polizeisirenen ihren deutlichsten und bekanntesten Ausdruck fand: ein Symbol der Rasanz, des Hetzens und Gehetztwerdens, des allgemeinen Gehetztseins, da ja gerade die Benutzer von Sirenen sich stets am falschen Ort zu befinden schienen.
9| Ein Buch klärt auf
Else Resele setzte sich ans Steuer, unterließ es aber, den Wagen zu starten, drehte das Innenraumlicht an und lehnte den Kopf gegen die Stütze, während sie ihn gleichzeitig ihrem Beifahrer zuwandte, der gerade ein eigentümliches, hellbeiges Gerät in der Hand hielt, möglicherweise eine Taschenlampe oder eine elektrische Zahnbürste, ein Diktiergerät, das war schwer zu sagen, es konnte alles mögliche sein. Er schien gar nicht zu bemerken, daß er den kleinen Apparat aus seiner Tasche herausgezogen hatte und nun wie einen Rosenkranz in der Hand wiegte. Sie vermied es, ihn danach zu fragen. Cerny konnte ausgesprochen empfindlich sein. Ohnehin war er in schlechter Stimmung. Rads Geschichte war ein lächerlicher Bluff gewesen, und es war albern, ein Wort davon geglaubt zu haben. Die beiden Lukas’ mochten skurrile Leute sein, kleine Gewerbetreibende eben, die, seit sie denken konnten, in ihrer Arbeit wie in einem einzigen philosophischen Gedanken steckten, der sie völlig in Beschlag nahm. Ein Gedanke, über dem sie ein wenig komisch geworden waren. Doch daß die Konditoreichefin mittels der Magie von Torten Teile der Wiener Gesellschaft beherrschte und ihr Gatte zur reinen Beschau Frauen und Kinder entführte, war äußerst unwahrscheinlich.
Else nahm – mehr aus Verlegenheit als aus Interesse – das Buch zur Hand, das Wiese verfaßt hatte. Sie blätterte darin, gelangweilt. Ihr Analytiker war tot. Aber zur Trauer reichte es beim besten Willen nicht. Daß sie nervös war, hatte andere Gründe. Ihre Nervosität galt dem grüblerischen, stämmigen Mann an ihrer Seite, den sie anfangs für unkompliziert gehalten hatte, der ihr aber keineswegs schlechter gefiel, bloß weil es sich als schwierig herausgestellt hatte, ihn anzufassen. Das war nur dann ein Unglück, wenn es dabei blieb. Es war eine schöne Vorstellung, diesen Mann, worin auch immer sein Problem bestand, zu heilen. Und indem sie ihm helfen würde, eine Sexualität abseits von Berührungsängsten zu entwickeln, hoffte sie – als handle es sich um eine Frage von Energieausgleich –, ihre eigene Obsession könnte auf ein taugliches Maß schrumpfen.
Das war natürlich bezeichnend. Kaum war ein Analytiker tot, glaubten seine Patienten, sie könnten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich ohne weiteres von ihren Neurosen verabschieden. Als gehe mit dem Ableben des Analytikers eine Art Amnestie
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