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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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kranichartig. Dabei ging er auf und ab, sah mehrmals auf die Uhr, putzte mit hektischen Bewegungen Staubzucker von seinem Ledermantel, betrat ein Buchgeschäft, nahm Bücher von den Stapeln, blätterte so heftig darin, daß ein Verkäufer ihn ermahnte. Vavra stand vor der Auslage und spähte über die Biographien von Bruno Kreisky sowie einer Dame, die bloß Sissi, und eines Herrn, der bloß Che zu heißen schien, hinweg in das Innere. Er konnte nicht erkennen, nach welchen Büchern der andere griff, aber darum ging es wohl auch nicht. Der Mörder Wieses war sicher nicht der Mann, der jetzt noch nach einer Lebenshilfe suchte. Wieder sah er auf die Uhr, verließ das Geschäft und versorgte sich mit weiteren Krapfen, die er in der üblichen Art verschlang, während er in eine Telefonzelle trat, sich den Hörer zwischen linkes Ohr und Schulter klemmte und auf die Tasten hämmerte. Vavra begab sich in die durch eine Scheibe abgetrennte benachbarte Kabine, konnte aber nur noch ein aufgeregtes »Jetzt sofort! Es muß sein.« verstehen. Er folgte dem anderen hinauf zur Straßenbahnstation, die dem Entree des Hotels Bristol vorgelagert war. Die Kälte zog einen an der Haut. Zwischen gelblich verfärbten Schneehaufen traten die Wartenden auf der Stelle. Vavra sah quer hinüber zu jenem massiven Bürogebäude, von dessen oberster Etage aus einst Oskar Kokoschka die Staatsoper gemalt hatte, bunt und fröhlich, in diesem nachexpressionistisch kulinarischen Stil, der so ideal zur Zweiten Republik paßte. Der Staatsoper ging es wie den meisten Prominenten, sie sah lang nicht so gut aus wie auf den vielen Fotos und Porträts.
    Der andere stieg in eine Straßenbahn. Vavra plazierte sich einige Reihen hinter ihm, blickte aus dem Fenster und vermißte den Nervenkitzel, den man sich zu einer Verfolgung dachte. Die Repräsentationsgebäude der Ringstraße lagen hinter einem Schleier, vermittelten den Eindruck riesiger Modelle aus bemaltem Karton, dürftig verleimt, als würden sich ganze Teile aus der Fassade lösen. Vor dem Parlament waren Demonstranten aufgezogen, ein elendes Häuflein, dessen Transparente sich verknotet hatten. Ein paar Mütter mit ihren Kindern, ein paar Senioren, wenig Männer, kein einziges Megaphon. Wer nahm sich heute noch die Zeit, unbezahlten Tätigkeiten nachzugehen? Drei Polizisten standen auf der Rampe, lächelten gütig. Angesichts der traurigen Schar wirkte das Hohe Haus imposant, kompakter als die anderen Kulissen. Daß sich darin vielgeschmähte Menschen befanden und ungehörte Reden hielten, war schwer vorstellbar. Hinter diesen Mauern wollte man eher den Dachverband der Wiener Tanzschulen vermuten.
    Vorbei am Rathausplatz fuhr die Straßenbahn auf die Josefstädter Straße. Auf Höhe des gleichnamigen Theaters stand ein bekannter Schauspieler in erschreckend undramatischer Leibhaftigkeit. Hinter ihm, hinter Glas, ein Plakat, auf dem man ihn auch wirklich erkannte.
    Am Josef-Matthias-Hauer-Platz stieg der andere aus. Vavra tat es ihm gleich. Half dann aber einer Frau, ihren Kinderwagen in die Straßenbahn zu hieven. Sie sah ihn entgeistert an, geradezu feindselig. Die Aversion gegen Personen, die sich mit ihren plärrenden Kleinkindern auf die Straße wagten, war eine Normalität, die zu durchbrechen auch von den Betroffenen selbst mit Skepsis quittiert wurde. Nicht zuletzt Vavra fragte sich, was ihn zu einer solchen Freundlichkeit getrieben hatte, schüttelte den Kopf wie über einen absurden Gedanken. Die Strafe folgte auf dem Fuß, denn als er sich nach dem anderen umsah, war dieser verschwunden.
    Vavra war weniger enttäuscht als hilflos. Er besaß jetzt die Freiheit, hinzugehen, wo er wollte. Das war nun wahrlich zuviel an Freiheit, das war die Freiheit, dem nächstbesten in die Fresse zu schlagen, dem hinkenden Greis ein Bein zu stellen oder in die gegenüberliegende Bankfiliale zu treten und zu behaupten, man trage unter seiner Jacke eine Bombe – das war die Freiheit, die man vielleicht einfordern konnte, wenn man Surrealist war und sich Freiheit freiwillig und in erträglichen Dosen einverleibte. Vavra jedoch brauchte keine bürgerliche Kultur zu überwinden, diese hatte quasi ihn überwunden, ihm jede Möglichkeit genommen, sich Sorgen zu machen. Da gab es nichts zu verlieren. Das war eine Freiheit, die an einen leeren Magen erinnerte.
    Und als er nun den zwergenhaften Mann in seinem Ledermantel aus der Bank treten und über die Straße in Richtung auf das Kaffeehaus Hummel sich zubewegen

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