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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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sah, da war das für ihn wie ein trockenes Stück Brot. Nicht das Schlechteste, ist der Hunger groß genug. Mit dem Essen kommt freilich die Unfreiheit, sprich der Appetit, weshalb Vavra jetzt die Lust packte, den anderen einzuholen, an der Schulter zu fassen, ihn zu sich zu drehen und höflich um Aufklärung zu bitten, warum der gute Wiese, alias Grisebach, hatte sterben müssen.
    Vavra näherte sich von der Seite. Der andere stand vor dem Eingang des Kaffeehauses. Und zog nun – als Vavra nur noch wenige Schritte entfernt war – aus der Innentasche seines Mantels eine Pistole, ein schweres, silberfarbenes, gepflegt anmutendes Gerät, das in optischer Hinsicht zu dem kleinen Mann nicht passen wollte, mit dessen Handhabung er jedoch überaus vertraut schien. Es lag eine große Sicherheit darin, wie er den Schußarm ausstreckte und das Ziel anvisierte. Dabei erinnerte er vielmehr an einen Sportschützen als an einen Todesschützen. Einen Moment dachte Vavra, daß ihn der andere also doch bemerkt hatte und mittels dieser Waffe einem klärenden Gespräch entgehen wollte.
    Vavra blieb stehen. Ein erster Schuß wurde gelöst. Menschen schrien, ließen sich zu Boden fallen. Ein zweiter Schuß erstickte jedes andere Geräusch. Es war tatsächlich so, als breite sich mit der Detonation Stille aus. Nicht wenige Personen fühlten sich tödlich getroffen, erschauerten angesichts der Kälte in sich. Daß diese vom Boden her kam, vergaßen die meisten. Auch Vavra meinte, eines der beiden Projektile habe ihn durchdrungen, konstatierte aber gleichzeitig, daß der Schütze ihm bloß sein Profil zugewandt hatte, ebenso das Profil der Waffe, die also auf jemand anderes gerichtet sein mußte und aus der nun weitere vier, fünf Kugeln abgefeuert wurden. Vavra sah einen Mann nach hinten stürzen. Er hätte nicht einmal sagen können, ob er alt oder jung war. Aber tot würde er wohl sein.
    Sein Mörder steckte die Waffe zurück, grub die Hände in die Manteltaschen und marschierte – nun wieder mit der Ruhe eines Müßiggängers – in Richtung Florianigasse. Dabei passierte er den Toten, ohne einen Blick auf diesen zu werfen.
    Nachdem die Stille eine viertel Minute lang wie ein Löschblatt über dem Platz gelegen war, erhoben sich die Leute, krochen hinter Verstecken hervor, liefen aus den Geschäften, ein Geschrei hob an, ein Gefühl der Begeisterung, an der Wirklichkeit teilgenommen und sie dennoch überlebt zu haben. Hände zeigten in verschiedene Richtungen. Erste Diskussionen über Zahl, Aussehen der Attentäter, ihren Fluchtweg, ihr Fluchtfahrzeug entbrannten. Die Divergenzen waren nur natürlich. In der Regel ist die Ankündigung eines solchen Verbrechens dürftig, welcher Täter schreit schon: Hoppla, jetzt komm’ ich! Der potentielle Zeuge erweist sich zumeist als unvorbereitet. Ehe er seine Beobachtungen aufnimmt, ist das eigentliche Delikt auch schon wieder Vergangenheit. Schüsse – verständlich, daß die Leute zunächst einmal an sich selbst denken, Schutz suchen, die Augen schließen, sich unter ihren Mänteln verbergen, ihr nacktes Leben zu retten versuchen, bevor sie endlich, sich in Sicherheit wiegend, ihre Köpfe heben, die Augen aufreißen, endlich bereit, alles aufzunehmen, was ihnen zweckdienlich erscheint: fahrende Autos, Motorräder, sich schließende Türen, dahineilende Passanten, Menschen, die gerade ihre Köpfe heben, die Augen aufreißen. Immer wieder wird der Bürger zur Wachsamkeit angehalten. Und er ist wachsam. Aber nicht so verrückt, sich in eine Schußlinie zu stellen, um den Täter besser sehen zu können.
    Der Tote selbst blieb bei alldem merkwürdig unbeachtet, also auch unbedankt, sollte erst mit dem Einzug der Polizei an Bedeutung gewinnen, indem er durch die Sicherung des Tatorts dem Zugriff der Menge entzogen wurde. Im Moment aber konnte sich jedermann den Leichnam anschauen, ein Toter eben, sorgfältig liquidiert, kein Anblick für Kinder, aber auch nichts, was man nicht schon kannte.
    Vavra war tatsächlich der einzige gewesen, der den Täter gesehen hatte, ihn noch immer sah, wie er jetzt die Albertgasse entlangging, ein kleiner, älterer Herr, ein wenig merkwürdig in seinem Ledermantel, aber nicht merkwürdig genug, daß sich jemand an ihn erinnern würde. Vavra folgte ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite, überzeugt, der andere werde sich hin und wieder nach einem eventuellen Verfolger umsehen. Doch der Mann blieb die Ruhe selbst.
    In der Lederergasse stellte er sich an eine

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