Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
aus.
Trotz ihres ausgiebigen Mittagessens vor nur wenigen Stunden aßen alle meine Freunde zwei Pizzas und tranken dazu eine unglaubliche Menge Bier. René spielte das Riesenbaby und ging von Tisch zu Tisch zur größten Belustigung aller Anwesenden. Nachdem sie die Pizzas vertilgt hatten, bestellten sie größere Mengen Grappa. Danach hatte der fast legendäre Sjaak zum ersten Mal einen leichten Schwips. Bei seinem fünften Glas wurde seine Stimme lauter, und er erzählte merkwürdige Dinge, und nach dem neunten Glas sagte er, von Begeisterung übermannt: »Dario, nächstes Jahr kommen Hanneke und ich zum Palio nach Siena, und wir bringen Ihnen Glück!« Da er wusste, dass meine contrada seit Jahrzehnten nicht mehr gewonnen hatte, lehnte er sich zu mir hinüber und flüsterte: »Endlich wird die Raupe wieder gewinnen!«
»Betrachten Sie sich als gebucht!«, antwortete ich.
An jenem Abend kehrte der arme Sjaak von den anderen gestützt ins Hotel zurück. Aber am nächsten Morgen – wie hätte es anders sein können – war er wieder ausgeruht, in bester Form und mehr als bereit, erneut für sein leibliches Wohl zu sorgen.
In San Gimignano schenkten wir den berühmten Türmen keinerlei Beachtung, sondern gingen direkt ins Restaurant. Abgesehen von etwa einem Dutzend Flaschen Wein und Grappa, verzehrten wir ein Essen, das aus einer toskanischen Vorspeise bestand, gefolgt von Risotto mit Spargelspitzen, Ravioli mit einer Wildkräuterfüllung. Schweinefleisch an Fenchelsauce, gebratenen Kartoffeln, Roastbeef, Spinatauflauf und zur Nachspeise einem Kuchen mit dem hübschen Namen »Fedora«.
An ihrem letzten Tag begleitete ich die Gruppe zum Flughafen von Florenz. Während sie auf den Heimflug warteten, half ich ihnen, die Bar leer zu trinken.
Im Jahr danach haben Sjaak und Hanneke ihr Versprechen gehalten und sind eigens für den Palio zurückgekommen. Es war im August 1996. Die Raupe errang einen sensationellen Sieg und konnte nach einundvierzig Jahren erstmals wieder das Palio-Banner nach Hause tragen.
Der schwarze Hahn
Die Achtzigerjahre gingen in die Geschichte ein und mit ihnen die glorreiche Zeit des Festefeierns in verlassenen Häusern. Wir wurden erwachsen, und unsere Gruppe zerstreute sich. Einige begannen zu arbeiten, andere zogen in die Stadt, um dort an der Universität zu studieren, wieder andere heirateten. Ein paar sind seither ganz aus meinem Leben verschwunden.
Außerdem wurden die meisten alten Bauernhäuser verkauft und in komfortable Ferienhäuser verwandelt. Plötzlich erwachte der ganze Chianti aus seinem Dornröschenschlaf. Inzwischen war ich meiner Arbeit im Weingut überdrüssig geworden. Ich wollte etwas Eigenes aufbauen und selbst Meister sein – kurz, ich wollte selbstständig arbeiten. Aber wozu taugte ich? Meine einzigen marktfähigen Eigenschaften waren mein fließendes Englisch und meine gründlichen Kenntnisse der Gegend. Ich suchte nach einer Möglichkeit, diese beiden Dinge miteinander zu verbinden und meine Dienste Touristen anzubieten, die das wahre Chianti-Gebiet besuchen wollten.
Nach langem Nachdenken und einer Abwägung der Risiken, bar jeglicher Ermunterung (ganz im Gegenteil!), kündigte ich meine Stelle und stürzte mich voller Begeisterung in meinen neuen Beruf. Zuerst musste ich die richtigen Genehmigungen einholen, dann brauchte ich mein eigenes Firmensymbol. In meinen Entwürfen dafür verwendete ich auch den schwarzen Hahn, das Wahrzeichen der Chianti-Gegend.
Um die Bedeutung des schwarzen Hahns zu verstehen, müssen wir ins Jahr 1206 zurückgehen. Damals verhandelten die sich ständig kriegerisch gegenüberstehenden Sienesen und Florentiner über einen Friedensvertrag, der – wie immer – nur von kurzer Dauer sein sollte. In diesen Verhandlungen konnten die Abordnungen der beiden Republiken sich nicht darüber einigen, wo die Grenze zwischen ihren zwei Staaten verlaufen sollte. Die Florentiner wollten eine weiter südlich liegende und die Sienesen eine Grenze weiter im Norden. Um unnötige Streitereien zu vermeiden, wurde beschlossen, die Frage in einem Wettkampf zu regeln. Aus jeder der beiden Städte sollte der beste Reiter starten und auf einer bestimmten Strecke so weit reiten, bis er auf den anderen traf. Genau an diesem Punkt sollte die neue Grenze verlaufen. Da es keine Uhren gab, um den Startzeitpunkt festzulegen, beschloss man, dass die Reiter beim ersten Schrei des Hahnes starten sollten.
Nachdem die Regeln festgelegt worden waren, traf man in
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