Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
über zehn Jahren befremdlicher Anfragen von meinen Kunden ist diese bisher die verrückteste.
Zum Thema Palio könnten ganze Bücher geschrieben werden, und es sind tatsächlich schon viele darüber entstanden. Man kann, wie auch ich das tue, Vorträge darüber halten, Videokassetten vorführen, alles Wissenswerte über den Anlass in die Köpfe Außenstehender hämmern – sogar Besucher zum Rennen selbst mitnehmen. Aber keiner, der außerhalb der Stadtmauern lebt, wird die wahre Bedeutung dieses außerordentlichen Ereignisses, das seit dem Mittelalter den alljährlichen Höhepunkt im bürgerlichen und gesellschaftlichen Leben Sienas darstellt, voll und ganz verstehen und würdigen können.
Hier in groben Zügen, worum es geht: Wie alle mittelalterlichen Städte war Siena in Stadtviertel eingeteilt, die wir contrade nennen. Jede einzelne contrada verwaltete ein bestimmtes Gebiet der Stadt und lebte dort recht unabhängig. Jede hatte ihren öffentlichen Platz, ihre Kirche und ihren Brunnen, wie in einem kleinen Dorf. In jedem dieser »Dörfer« gehörten die Einwohner einer Gilde an. Die ersten Rivalitäten entstanden, als die Grenzen zwischen den verschiedenen Gebieten gezogen wurden, was erklärt, weshalb die Rivalin einer contrada in der Regel die benachbarte contrada ist. Jede contrada hatte auch ihre eigene Armee. In der Zeit der ständigen Kriege mit Florenz war es im Falle eines plötzlichen Angriffes leichter, viele kleine Armeen aufzubieten, als ein einziges großes Heer unter einem alleinigen Kommando. Noch heute haben die Viertel ihre militärisch geprägte Organisation beibehalten, mit strengen Regeln und einer starren Hierarchie.
Während der langen Belagerungen versammelte sich die Bevölkerung von Siena auf den öffentlichen Plätzen und veranstaltete Spiele, vor allem Kampfspiele. Eines davon hieß »Elmora« und war ein vorgetäuschter Kampf zwischen zwei Truppenverbänden mit Holzwaffen und Schildern aus Weidegeflecht. Das Spiel war aber zu wild und wurde bald verboten. Ein anderes hieß »Giorgiano«. Hier musste eine Gruppe von Männern mit stumpfen Schwertern eine Festung gegen den Angriff einer zweiten Gruppe verteidigen. Es wurde aufgegeben, weil es beim Publikum keinen Gefallen fand, begeistert war das Volk hingegen über ein Spiel, das man »Pugma« nannte. Es wurde von 1261 bis in die ersten Jahre des 18. Jahrhunderts veranstaltet und war eine Art Kampf ohne Waffen: Man bekämpfte sich mit Fausthieben und Schlägen, und manchmal wurden die Gegner sogar gebissen.
»Pallonata« hieß ein Ballspiel, das am Stephanstag stattfand. Zwei Mannschaften standen sich auf der Piazza del Campo gegenüber. Bei Spielbeginn wurde der Ball oben vom Stadthausturm hinuntergeworfen, worauf die Mannschaften sofort begannen, sich zu stoßen, zu schlagen und gegenseitig zu überrennen und so zu versuchen, den Ball ins gegnerische Tor zu befördern. Zwei Straßeneinmündungen in den Campoplatz waren die beiden Tore. Obwohl im Spiel nichts verboten war und die Spieler sich fast wie Hooligans benehmen durften, war es nur den edlen Rittern vorbehalten, wie die mittelalterlichen Turnierspiele.
1499 kamen unter spanischem Einfluss die Stierkämpfe auf, und der Grundstein für den Palio wurde gelegt, weil hier erstmals eine contrada einer gegnerischen contrada gegenüberstand. 1599 wurden die ersten Rennen zwischen den Stadtvierteln auf dem Campo veranstaltet. Sie fanden aber nicht auf Pferden statt, sondern auf Ochsen. Nach einem Umzug, in welchem die Zünfte ihre bürgerlichen Errungenschaften zur Schau stellten, hetzte man die Tiere dreimal um den Platz. Diejenige contrada, deren Ochse gewann, erhielt den Palio, ein kostbares Stück Tuch, und die contrada, die im Umzug am wirkungsvollsten aufgetreten war, gewann eine Skulptur, »Masgalano« genannt.
Später wurden asinate – Eselsrennen – durchgeführt und ein Rennen mit Pferden »alla lunga« – der Länge nach -, weil es durch die Straßen der Stadt führte, aber ohne Reiter. Und so kommen wir zum modernen Rennen.
Der Palio findet jeden Sommer zweimal auf der Piazza del Campo statt, am 2. Juli zu Ehren der Jungfrau von Provenzano und am 16. August zu Ehren von Mariä Himmelfahrt. Das erste Datum wurde 1659 definitiv festgelegt und das zweite 1774. In einem Erlass von Prinzessin Violante von Bayern im Jahr 1729 wurden die contrade selbst definiert, ihre Grenzen amtlich festgelegt und ihre Zahl von dreiundzwanzig auf siebzehn beschränkt. Historische
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