Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
angehaltenem Atem darauf zu sehen, welche drei Fahnen noch ausgehängt werden, und wenn ihre eigenen Fahnen hochgezogen werden, brechen die contradaioli der glücklichen contrade in Freudengeschrei aus und singen immer wieder aus vollem Halse ihre contrada -Hymnen.
In den contrade herrscht nun plötzlich Hochbetrieb. In den Straßen ertönen die Hymnen und dringen bis in die versteckteren Winkel der Altstadt. Die Telefonleitungen in der Stadt summen. Man organisiert und trifft Verabredungen. Um die Piazza del Campo herum baut man vor den Hausfassaden die steilen Tribünen auf, und auf die Rennpiste rund um den Platz wird Erde geschüttet.
So wie die Auslosung die Eröffnung der Festivitäten bedeutet, so bedeutet die Verwandlung des Hauptplatzes in eine Rennpiste, dass der Palio begonnen hat. Nun zieht es die Sienesen abends wie magisch zur Piazza del Campo. Sie spazieren glücklich auf der Piste, sitzen auf den unbequemen Tribünenplätzen, und – wie immer – sie singen dazu. Die Vorfreude wächst und lässt bis zum Rennen nicht mehr nach.
Vier Tage vor dem Palio (am 29. Juni und am 13. August) werden die Pferde ausgelost. Sie wurden zuvor einem strengen Auswahlverfahren und eingehenden tierärztlichen Untersuchungen unterworfen. Nach verschiedenen Probeläufen wählen die Hauptleute die zehn Pferde aus, die am Palio teilnehmen sollen. Die Wahl wird gegen ein Uhr mittags getroffen. Inzwischen haben sich tausende von hoffnungsvollen contradaioli auf dem Campoplatz versammelt. Die zehn Pferde werden normalerweise so ausgewählt, dass das Rennen besonders spannend wird.
Zwei oder drei tragen bekannte Namen, das heißt, sie haben schon einmal einen Palio gewonnen. Weitere zwei bis drei haben schon einmal am Palio teilgenommen, ohne jedoch einen Sieg zu erringen. Die übrigen sind Neulinge auf der Piazza. Die Pferde werden in Holzverschläge vor dem schönen Rathaus geführt. Auf einen Trompetenstoß erscheinen der Bürgermeister und die zehn Hauptleute vor dem Gebäude und nehmen auf einem erhöhten Podium Platz. In der Nähe warten die Abordnungen der contrade in ihren historischen Kostümen. In den Augen der Menge sind diese Abordnungen für den Ausgang der Verlosung verantwortlich – was ziemlich unfair ist. Wenn einer contrada ein gutes Pferd zufällt, werden die offiziellen contrada -Vertreter mit Küssen und Umarmungen der contrada -Mitglieder überhäuft, wenn nicht, fällt die Begrüßung wesentlich unfreundlicher aus.
Der Bürgermeister zieht für jede contrada den Namen eines Pferdes. Dieser Augenblick gefällt mir von allen Etappen des Palio am besten. Das lang anhaltende Freudengeschrei der contradaioli, wenn ihrer contrada ein gutes Pferd zufällt, kann sich bis zur Hysterie steigern. Die anfänglichen Rufe des Erstaunens und der Freude spülen wie Wogen über den Platz hinweg. Und wenn die contradaioli dann das Pferd abholen und es auf den Platz begleiten und dabei mit erhobenen Fäusten singen, bekommt man unwillkürlich Gänsehaut. Aber auch Verzweiflung kommt vor; Schweigen herrscht bei den contrade, denen ein unfreundliches Schicksal ein weniger begehrenswertes Pferd zugesprochen hat. Da ist es nicht selten, dass erwachsene Männer weinen, auch noch wenn sie den Campoplatz hoch erhobenen Hauptes verlassen. Und nun beginnt die Spöttelei. Sticheleien und Spottlieder der glücklicheren contrade richten sich an die unglücklichen Konkurrenten. Normalerweise bleibt es bei gutmütigen Scherzen, aber die contrada -Zugehörigkeit darf nicht zu stark auf die Schippe genommen werden, sonst arten die Späße in eine handfeste Schlägerei aus.
Die Pferde werden selbstverständlich von dieser Unruhe fern gehalten. Jedes wird in seine contrada gebracht, in einen so sauberen und gut eingerichteten Stall, dass man ihn eher für ein elegantes Wohnzimmer hält. Das für das Pferd verantwortliche contrada -Mitglied, der barbaresco, lebt bis zum Tag des Palio mit dem Pferd im Stall, denn man kann nie vorsichtig genug sein …
Sofort nach der Verlosung beginnt die Zeit der Reiter, die wir assassini – Mörder – nennen. Sie sind die umstrittensten Personen des Palio und richtige Söldner. Nur selten bleiben sie einer contrada treu. Ursprünglich stammten die Reiter aus Siena. Um 1960 sind jedoch viele von der Insel Sardinien stammende Schafhirten in die Provinz Siena eingewandert und haben sich dort als Reiter angemeldet. Heute besitzen die Sarden praktisch das Monopol für diesen Beruf. Vielleicht rührt es
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