Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
contrade wie der Hahn, die Viper, der Bär, der Löwe, das Starke Schwert und die Eiche wurden endgültig abgeschafft.
Eine der mir am häufigsten gestellten Fragen ist, wie man Mitglied einer contrada wird. Die Antwort darauf ist nicht einfach. Am leichtesten ist es, wenn man in Siena geboren wird. Dann wird man automatisch in der Kirche der contrada getauft, in der man wohnt. So kann es geschehen – und es geschieht sehr oft -, dass die Mitglieder einer Familie verschiedenen contrade angehören und dass sogar die Kinder zu einer anderen contrada zählen als ihre Eltern, weil sie in einem anderen Stadtviertel zur Welt gekommen sind.
Aber es genügt nicht, in der Stadt geboren zu sein, um von sich sagen zu dürfen, man sei ein contradaiolo. In Wirklichkeit ist die contrada wie eine große Familie, und als solche hat sie ihre Traditionen und Rituale, die aufrechterhalten und befolgt werden müssen, auch durch eine aktive Teilnahme. Tausende von Pflichten müssen erfüllt, Versammlungen besucht, Feste veranstaltet und Umzüge und Prozessionen durchgeführt werden. Den jungen contradaioli muss das Trommeln und das Fahnenschwingen beigebracht werden. Man hat für die Alten zu sorgen und sich um sie zu kümmern. Aus soziologischer Sicht ist das contrada -Leben einzigartig in der modernen Welt – eine Art gemeinnütziges städtisches Stammessystem. In Siena ist die Kleinkriminalität fast unbekannt, und die Leute leben ein glückliches, von gemeinnützigen Aufgaben erfülltes Leben. Die einzige negative Seite ist, dass die kleine Welt der contrade Siena zu einer eher in sich gekehrten Stadt macht. Hier aufgenommen zu werden, ist für Außenstehende schwierig. Trotzdem kann dies – wenn Wille und Geduld vorhanden sind – sogar ein Ausländer erreichen und ein wichtiger Teil der Gemeinschaft werden, wie ich in einem späteren Kapitel zeigen werde.
Jede contrada hat einen Hauptsitz, der nicht nur als Verwaltungssitz dient, sondern gleichzeitig als Museum und für gesellige Anlässe. Das höchste Amt der contrada hat der Prior inne. Ihm steht ein Vikar zur Seite sowie jeweils ein camerlengo – Kämmerer - , ein bilanciere – Buchhalter - , ein economo – Verwalter -, ein oder mehrere vice economi und schließlich der capitano, der Hauptmann, welcher die contrada beim Palio vertritt.
Weitere Organe der contrada sind die Generalversammlung und der Rat des Volkes. Die Ämter werden in Wahlen vergeben. Wiederwahlen sind mehrmals möglich. Die contradaioli erhalten mit achtzehn Jahren das Stimmrecht. Jeder kann in der contrada ein Amt übernehmen. Es besteht keinerlei Diskrimination aufgrund von Geschlecht, Beruf oder wirtschaftlicher Situation. Nur im historischen Umzug vor dem Palio wird diskriminiert, und das ganz einfach, weil der Umzug die Darstellung einer mittelalterlichen Militärparade ist, an der die Frauen, die ja auch keine Soldaten waren, nicht teilnehmen.
Obwohl der Ausdruck »Palio« heute das Pferderennen bezeichnet, bedeutet das Wort eigentlich »Tuch« und bezieht sich auf das gemalte Banner, das der siegreichen contrada als Preis zusteht. Weil das ganze Ereignis der Madonna gewidmet ist, muss die Jungfrau Maria auf dem Banner dargestellt sein; auch die Farben der am Rennen teilnehmenden contrade sind darauf zu finden. Alles Weitere kann der Künstler völlig frei gestalten, wobei er sich allerdings an die vorgeschriebenen Maße des Banners halten muss. Die Maler werden ernannt und können sowohl aus Siena als auch von außerhalb stammen. Manche von ihnen besitzen einen internationalen Ruf.
Das erste große Ereignis der Palio-Saison ist die Auslosung, die ungefähr einen Monat vor jedem Rennen stattfindet. Weil auf dem Campo nicht genug Platz für alle siebzehn contrade ist, können nur zehn am Rennen teilnehmen. In jedem Juli nehmen die sieben, die im Vorjahr nicht mitmachen durften, automatisch teil. Die restlichen drei Plätze werden unter den verbleibenden zehn contrade ausgelost. Die gleichen Regeln gelten für den August-Palio. So sind die beiden Rennen getrennte Ereignisse, und eine vom Glück besonders verwöhnte contrada kann im gleichen Jahr unter Umständen zweimal mitmachen.
Am Auslosungssonntag wehen in den Fenstern des Rathauses die Fahnen der sieben teilnehmenden contrade. Nach der Auslosung der drei zusätzlichen contrade werden auch ihre Fahnen aufgehängt. Die Ziehung selbst ist Aufgabe des Bürgermeisters und der capitani. Auf dem Campoplatz wartet eine große Menschenmenge mit
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