Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Leben war. Mit Korsakov auf freiem Fuß bräuchte es allerdings mehr als bloß ein Wunder, damit das auch so blieb. Es bedürfte einer göttlichen Fügung.
Etwas, worüber er sich vor acht Jahren als lässiger Surfer und Songwriter namens Stan Diamontes mit einem Buchhaltungsjob bei einem russischen Indiefilmproduzenten, der gleichzeitig Mafiosi war, noch lustig gemacht hätte. Damals hatte ihn nur interessiert, dass irgendwie die Rechnungen bezahlt werden mussten. Doch in acht Jahren konnte ein Mann sich ändern, konnte die Liebe kennenlernen und ein Verantwortungsgefühl entwickeln, das weiter reichte als bis zur eigenen Nasenspitze.
Er war die Nacht durchgefahren und hatte die Hütte des Colonels erreicht, als der Sternenhimmel gerade von ersten, zaghaften Strahlen der Morgendämmerung erhellt wurde. Sobald er den Wald betreten hatte, war das Sonnenlicht wieder verschwunden gewesen, nicht jedoch die Hoffnung, die es mit sich gebracht hatte. Ein letzter Tag. Eine letzte Chance.
Während er schweigend im Dunkel den Berg hinabwanderte, musste er unweigerlich an all die Jahre denken, die er ohne Sinn und Verstand verschwendet hatte.
Ohne einen echten Lebenstraum. Nur mit diesen Hirngespinsten, die ihn angetrieben hatten, als er noch zu jung gewesen war, es besser zu wissen: Die große Welle zu erwischen, den Durchbruch im Musikgeschäft zu schaffen, richtig abzusahnen. All die Zeit, die er an derart vergängliche Dinge vergeudet hatte, an große Phrasen ohne Inhalt, ohne etwas, für das es sich wirklich zu leben lohnte. Oder zu sterben.
So wie für Sarah und Josh.
Wechselnde Bilder zogen an seinem geistigen Auge vorbei: wie Sarah ausgesehen hatte, als sie sich das erste Mal geliebt hatten, die weit aufgerissenen, fiebrig glänzenden Augen, ihre bebenden Körper. Sarah engelsgleich an ihrem Hochzeitstag, ruhig, strahlend, während Sam gedacht hatte, er würde jeden Moment durchdrehen. Die Brandung in Point Arguello war nichts im Vergleich zu seinem inneren Aufruhr an jenem Tag. Bis sie seine Hand genommen hatte. Ab da war alles gut gewesen.
Sarah mit vor Schmerz gerötetem Gesicht und aufgeblasenen Wangen, als sie sich bemühte zu pressen-pressen-pressen-pressen. Wie er ihre Hand gehalten hatte, während Dr. Hedeger und die Krankenschwester Sarah antrieben – Pressen! Er war sich wie der letzte Idiot vorgekommen. Sie hatte solche Schmerzen gehabt, und er hatte ihr überhaupt nicht helfen können, obwohl er doch daran schuld war …
Dann hatte sich ihr Gesicht entspannt. Ein gurgelnder Schrei hatte den Raum erfüllt. Als Sam nach unten geschaut hatte, war da diese rosa Masse aus Armen und Beinen und angeklatschtem Haar gewesen, die ihn aus blauen Augen angestarrt hatte. Sarahs freudestrahlendes Gesicht, wie sie gelacht hatte, bis ihr die Tränen gekommen waren. Es war das einzige Mal gewesen, dass er sie hatte weinen sehen.
Sam hatte auch geweint und nicht einmal die Nabelschnur durchtrennen können, als ihn Dr. Hedeger darum bat, weil er so stark gezittert hatte.
Sarah hatte ihr Baby auf die Brust gelegt und die Hand nach Sam ausgestreckt, seine Handfläche an den Säugling geführt. Dieses wundervolle, rätselhafte Wesen, das sie in die Welt gesetzt hatten. Gemeinsam. Als er seine Arme um Sarah und Josh geschlungen hatte, war dieses Rauschen in seinem Schädel zu hören gewesen, stärker als eine Welle, die einen überrollt, wie wenn die Brandung über einem zusammenschlägt, dich nach unten zieht, bis du nicht mehr weißt, wo oben und unten ist, und nur noch denkst … vielleicht werde ich die Sonne niemals wiedersehen, könnte sein, dass ich es nicht mehr bis an die Oberfläche schaffe.
Ich könnte sterben.
Dieses Rauschen, als er seine Familie umarmte, war noch viel mächtiger gewesen. Es hatte alles andere verdrängt, bis er sich wie ein Neandertaler schützend über Frau und Kind gebeugt hatte in jeder Faser seines Körpers war ein urtümlicher Beschützerinstinkt erwacht. Er würde sich und die Seinen gegen den Rest der Welt verteidigen. Jederzeit. Für immer und ewig.
Er erinnerte sich daran, wie er tief eingeatmet hatte, an den Geruch von Sarahs Haut, nach Schweiß und Angst und Schmerz und Freude, nach Blut und nach Unschuld. Das hier war seine Familie, und er würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustieß.
Zumindest hatte sich Sam das vor fünf Jahren geschworen. Und jetzt stand er an dem Ort, an dem alles begonnen hatte. An dem alles zu Ende gegangen war.
Er fuhr mit den Fingern über die
Weitere Kostenlose Bücher