Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
willst.«
Nicht nur seine Stimme, sondern sein ganzer Körper bebte. Am liebsten hätte Sarah ihn in ihre Arme gezogen und getröstet. Stattdessen ballte sie die Hände zu Fäusten und hielt sie starr am Körper, verweigerte ihm jede Berührung. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.
»Du wirst entscheiden. Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Es liegt einzig an dir, Sarah.«
* * *
JD hasste es, sich so zu fühlen. Mit jeder Faser seines Körpers sehnte er sich danach, Julia zu berühren; er hungerte förmlich nach ihr. Doch zugleich war sein Mund wie ausgedörrt, und alles, was er sagte, klang total bescheuert. Sie saßen gemeinsam auf der Decke und suchten die Nacht nach den geheimnisvollen Lichtern ab, wobei sich ihre Beine durch den Stoff der Jeanshosen hindurch berührten. Dabei unterhielten sie sich über ihre Familien, über ihre Eltern mit den hoffnungslos altmodischen Ansichten, die Schule, ihre Träume … und wenn Julia etwas betonen wollte, legte sie ihm manchmal ganz ungezwungen eine Hand auf seinen Arm oder sein Bein. Ab und zu beugte sie sich auch vor, um zu unterstreichen, was sie sagte, dann strich ihr Haar über seine Haut.
Gott, was machte er bloß falsch? Er wischte sich die ganze Zeit nur die feuchten Handflächen an den Hosenbeinen ab, wo er doch nur zu gern ihre glatte, zarte Haut berührt hätte. Er wünschte, es wäre kühler, damit er wenigstens wärmend die Arme um sie legen könnte.
Aber die Nacht war mild und Julias Jeansjacke warm genug. Schweigend saßen sie einige Minuten nebeneinander; JD dachte daran, wie die anderen Jungs ihn auslachen würden, wenn sie erfuhren, dass er sie nicht einmal geküsst hatte. Da wandte sie sich plötzlich mit erwartungsvollem Blick zu ihm um, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Wartete sie etwa darauf, dass er sie küsste? Und wenn er es nun vermasselte? Gerne hätte er sie berührt, doch die Vorstellung, wie sie angesichts seiner unbeholfenen Annäherungsversuche in Gelächter ausbrach, hielt ihn zurück.
Das hier war kein bisschen, wie es immer im Film dargestellt wurde. Oder wie das, wovon die Jungs im Umkleideraum erzählten. Warum konnte er nicht einfach normal sein, so wie die? Dann wüsste er genau, was er mit einem Mädchen anstellen sollte.
»Warum ist dir das eigentlich so wichtig?« Julias sanfte Stimme durchbrach die Stille und holte ihn aus seiner Angststarre. »Wenn du der Sache schon deinen ganzen Sommer widmest, dann geht es doch bestimmt um mehr als nur die Chance auf ein Praktikum. Und warum ausgerechnet diese Lichter? Warum nicht einen Film über etwas Einfacheres drehen?«
Er richtete sich auf und schaute sie an. Sie wirkte aufrichtig interessiert, als ob das, was er zu sagen hatte, wirklich bedeutsam wäre. Für sie.
Sein Herzschlag beschleunigte sich, zweimal musste er sich die Lippen befeuchten, ehe er in der Lage war zu antworten. Er musste ihr die Wahrheit sagen, nicht das, was er allen anderen auftischte. »Ich wollte herausfinden, was es mit diesen Lichtern auf sich hat, weil« – er wandte den Blick ab, unsicher, ob er sich hiermit zum Narren machte – »ich wiedergutmachen wollte, was vor zwei Jahren passiert ist. Dieser Damian Wright konnte damals wegen mir davonkommen, verstehst du?«
28
Die meisten Passagiere des United-Flugs 803 von Los Angeles nach New York schliefen tief und fest. Nicht jedoch Grigor Korsakov. Er hatte in den letzten sieben Jahren mehr als genug Zeit gehabt zu schlafen. Er würde nicht eine einzige weitere Sekunde an das Land der Träume verschwenden.
Schließlich war er kurz davor, all seine Träume wahr werden zu lassen.
»Wissen Sie, was die Menschen im Gefängnis wirklich umbringt, Dawson?«, fragte er den Anwalt im grauen Anzug, der neben ihm saß – ein Aufpasser, den sein Onkel geschickt hatte. Selbst seine eigene Familie schien ihm nicht mehr zu vertrauen.
Dawson gähnte ungeniert, öffnete mühsam die wässrigen Augen auf und schaute Grigor an. »Schlägereien?«
»Nein. Langeweile. Schiere Langeweile.«
»Klar. Und aus Langeweile fängt das mit den Schlägereien an.« Dawson musste immer das letzte Wort haben, typisch Anwalt.
Korsakov blickte in die schwarze Leere vor dem Fenster. »Wissen Sie, wie ich die Langeweile bekämpft habe?«
»Regie geführt bei den Theaterstücken des Gefängnisensembles?« Der abschätzige Unterton in Dawsons Stimme war nicht zu überhören. Offenbar hatten sich Grigors künstlerische Neigungen in seiner Familie
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