Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
wollte sie auf keinen Fall loslassen. »Ich konnte es nicht tun. Konnte ihn nicht erschießen. Also hat Korsakov einen Lötkolben genommen und dem Kerl die Augen herausgebrannt. Dabei muss er eine Arterie getroffen haben, denn auf einmal spritzte eine Blutfontäne aus ihm heraus, und dann war er tot.«
Ihm dröhnte der Schädel, als er an die schreckliche Stille zurückdachte, die sich damals über den Raum gelegt hatte. Eine Stille, die nach einigen Sekunden von Korsakovs Gelächter zerrissen wurde.
»Ich fragte ihn, wer dieser Mann sei, was er getan habe, um solch eine Strafe zu erleiden. Korsakov sagte, er habe keine Ahnung. Der Mann wäre einfach irgendjemand, den sie sich auf der Straße geschnappt hatten. Um mir zu zeigen, wie ernst es ihm mit dem Treueschwur war.« Sein Mund war trocken, er schluckte, aber auch die Kehle war ausgedörrt. »Damals ist mein Plan entstanden. Ich habe so viele Belege wie möglich über Korsakovs Treiben gesammelt und mir gleichzeitig in Kanada eine neue Identität geschaffen. Als ich alles beisammenhatte, bin ich zum FBI gegangen. Nach Korsakovs Verurteilung wollten sie mich im Zeugenschutzprogramm unterbringen, aber ich wusste, alleine wäre ich besser in der Lage, für meine Sicherheit zu sorgen, also bin ich weggerannt. Aus Stan Diamontes, dem Mafia-Steuerberater und Verräter erster Klasse, wurde Sam Durandt, der mittelmäßige Liedermacher und Versicherungsvertreter.
»Und du hast mir nie etwas erzählt.« Sie löste sich von ihm, ihr Gesicht war düster. »Du hast mich glauben lassen … ein Kind mit mir in die Welt gesetzt, obwohl du wusstest, dass wir alle irgendwann wegen deiner Vergangenheit in Gefahr geraten könnten.« Er hörte die Wut in ihrer Stimme. »Sam, wie konntest du mir das bloß verschweigen?«
»Ich wollte ein neues Leben, einen Neuanfang. Für uns alle. Ich hatte fest vor, es dir zu sagen, sobald ich dir ebenfalls eine neue Identität verschafft hätte.«
Sie runzelte die Stirn. »Neue Identität? Wozu?«
»Ich wusste, dass Korsakov früher oder später aus dem Gefängnis kommen und nach mir suchen würde. Also habe ich einen Fluchtweg vorbereitet. Neuer Pass, ein Wohnsitz, Führerschein, sogar mit Krankenversicherung und beruflichem Werdegang. Vor dir steht Samuel Deschamps, kanadischer Staatsbürger.«
»Deschamps?«
»Als Josh auf die Welt kam, habe ich auch für ihn eine zweite Identität geschaffen. Bei einem Kleinkind ist das einfach. Während du arbeiten warst, bin ich öfter mit ihm über die Grenze gefahren. Aber nach dem Elften September konnte ich dir keinen neuen Pass mehr besorgen – zumindest keinen, der gut genug gewesen wäre, um dein Leben darauf zu setzen.«
»Du hast das also alles von langer Hand geplant? Hast dir Josh geschnappt und bist abgehauen und hast mich zurückgelassen? Wieso? Und wie war das möglich? Da war so viel Blut, und Damian Wright hat die Morde gestanden. Sam, was zum Teufel ist damals vorgefallen?«
30
Caitlyn öffnete die erste Aktenkiste, schlüpfte aus den Schuhen und kniete sich auf ihren Stuhl, um die Unterlagen zu sortieren.
»Ich habe hier die Berichte der Spurensicherung und die Fotos vom Tatort gefunden«, sagte sie an Hal gewandt, der hinter ihr seinen Kaffee schlürfte. Sie nahm selbst ein paar Schlucke aus ihrer Tasse. Bitter, könnte mehr Zucker vertragen. »Siehst du diese Blutflecke? Die stammen von Richland. Anscheinend hat er sich den Kopf an dem großen Felsbrocken dort angeschlagen und sich dann vor Schmerz hin und her gewälzt.«
»Damals dachten wir, das sei Wrights Blut gewesen. Wir sind davon ausgegangen, dass er Sams Leiche beiseitegeschafft und sich dann Josh geschnappt hätte. Aber wenn Richland auf Sam angesetzt war, wozu dann die Leiche verstecken? Und was hat er mit Josh angestellt?« Hal setzte sich auf den Stuhl neben ihrem, streckte den Arm aus und nahm ihr eines der Fotos ab.
Caitlyn spitzte die Lippen. »Das ist die Preisfrage, nicht wahr?« Sie schaute zu Hal hinüber, ihre gespannten Blicke trafen sich. »Hat Richland Josh möglicherweise gar nicht umgebracht? Vielleicht sind der Junge und Sam beide noch am Leben?«
»Nein.« Hal ließ das Foto fallen. Es schlitterte über den Tisch, aber er holte es nicht wieder zurück. »Das würde Sam niemals tun, nie würde er Sarah so etwas antun. Sie so hintergehen, ihr den Sohn wegnehmen. Außerdem, schau dir die Menge an Blut an. Es wäre ein Wunder, wenn jemand so einen Blutverlust überleben würde. Geschweige denn noch
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