Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
widerstrebend an, denn sie hatte es eilig, sie musste auf dem Standesamt Urkunden von anonymen Geburten ausstellen.
Wenige Minuten später stoppte die Kommissarin vor einem dunklen Bistro– man wähnte sich fast im Randgebiet–, um einen gestreckten Espresso zu bestellen. Und ein Croissant, das sie wegen der Diät wieder abbestellte.
Sie rief den Wirt zu sich: » Servieren Sie oft Blancs gommés?«
» Gommés? Nie. Blancs limés, mit Limonade, das ist schon vorgekommen, aber jetzt mache ich keine Limonade mehr. Hätten Sie einen gewollt?«
» Nein danke, nicht zum Kaffee. Und Canaris?«
» So früh morgens, nein. Ab elf Uhr, ja, aber eher selten. Die Canaris sind eine besondere Klientel, häufig Rauschtrinker.«
Was trieb sie hier eigentlich, was interessierte sie an diesem Toten, den sonst niemand interessierte, nicht einmal seine Witwe? Es war schon vorgekommen, dass sie einer falschen Fährte folgte, aber das hier war einfach kein richtiger Fall, sondern eine simple Meldung aus der Rubrik » Verschiedenes«. Oder nicht einmal das: ein Vorfall aus dem Frankreich von heute. Ein Jugendlicher, der ein wenig Spaß haben wollte. Manchmal zündeten sie Autos an, bedrängten ein Mädchen im Zug oder nahmen einen kleinen Supermarkt auseinander. Hier hatten sie einen Obdachlosen angegriffen. Wir wollten nichts Schlimmes tun, Herr Richter, wir machen das nicht mehr. Viviane spürte ein bekanntes Gefühl schlecht unterdrückter Gereiztheit aufkommen, und dann war es wieder so weit, sie hasste die Jugendlichen, die Richter, das Frankreich von heute, das Pariser Leben, sie hasste die ganze Welt, sie wurde wie Pascal Mesneux, sie dachte sogar kurz daran, sich einen Canari zu bestellen, zur Beruhigung.
Sie kehrte ins Kommissariat zurück, noch voller Hass, es war wohl die Diät, die sie in einen solchen Zustand versetzte. Sie wickelte ein paar alltägliche Akten ab, wunderte sich, dass es keine Infos über Tolosa gab, schimpfte über alles und jeden, selbst über Monot, der noch immer nicht zurück war, sondern vermutlich durch die Arrondissements rannte und nach seinem Pancake suchte. So kalt wie es war, würde er sich totfrieren, Viviane fühlte sich schuldig: ein nutzloser Tag und ein krankheitsbedingter Ausfall in Sicht– wegen eines Falls, der keiner war.
Monot kam bei Anbruch der Dunkelheit zurück, mit roter, tropfender Nase. Aber fröhlich: Er hielt eine kleine braunrote Tüte in der Hand.
» Ich hab’s gefunden, Commissaire! Der Pancake, der war von McDonald’s.« Er öffnete die Tüte und holte zwei Pancakes heraus, die das Büro mit einem schweren Geruch nach süßem Fett erfüllten. » Das gibt es dort zum Frühstück. Ich musste warten, bis weniger los war, damit sie mir ein paar davon machen konnten. Ich habe sie probiert, das sind sie.« Er legte Viviane den Pancake vor die Nase. » Wollen Sie kosten?«
Einmal mehr gesündigt in ihrer Diät, aber sie wollte Monot nicht beleidigen und nahm einen Bissen. Kalt, fettig, ein bisschen geräuchert und gleichzeitig salzig, der Teig klebte am Gaumen. Aber besser als die Schale mit Gemüse und Schinken, die sie sich heute Mittag angetan hatte. Sie nahm einen weiteren Bissen. » Gar nicht übel, Monot, das Frühstück von McDonald’s. Hat einen Beigeschmack von ›Besuchen Sie uns bald wieder‹.«
Der Lieutenant wartete, bis sie sich den Mund fertig abgewischt hatte, und schloss: » Pascal Mesneux war ganz Ihrer Meinung, er ging jeden Morgen dorthin.«
Kapitel 3
Dieser Fall hatte eindeutig alles, was sie nicht mochte: Obdachlose, Literatur, und jetzt auch noch McDonald’s.
» Wie haben Sie das herausgefunden?«
» Ich habe in einem Forum für Jugendliche gepostet und die Beschreibung des Pancakes dort hinterlassen. Die Antwort kam prompt, sogar zehnfach. Alle hatten den Brunch von McDonald’s erkannt.«
» Ja, natürlich.«
Viviane ging niemals brunchen, schon gar nicht bei McDonald’s. Sie trieb sich auch nicht in Foren herum, vor allem nicht in solchen für Jugendliche. Sie fühlte sich irgendwie betrogen. Hinter ihrem Rücken entstand eine neue Welt.
» Ich musste nur noch die Runde durch alle McDonald’s machen und Mesneux’ Foto herumzeigen. Ich hatte vergessen, mir einen Abzug machen zu lassen, also habe ich ein Buch von Victor Hugo gekauft, mit einem Foto von ihm als altem Mann darin. Ich lasse Ihnen das Buch da, wenn Sie wollen. Ich habe Betrachtungen genommen, ich glaube, das könnte Ihnen gefallen. Er hat das geschrieben, als…«
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