Tote erinnern sich (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
»Ich muss meine Reise bei Tageslicht fortsetzen.«
»Ich auch«, fügte der Franzose hinzu. »Wirt, zeig uns unsere Kammern.«
Schwarze Schatten waberten an den Wänden, als die beiden ihrem stummen Gastgeber durch einen langen, dunklen Flur folgten. Die untersetzte, breite Gestalt ihres Führers schien im Licht der kleinen Kerze in seiner Hand, die hinter ihm einen langen, grimmigen Schatten warf, anzuwachsen und sich auszudehnen.
An einer bestimmten Tür blieb er stehen und bedeutete ihnen, dass sie dort schlafen sollten. Sie traten ein; der Wirt entzündete mit seiner Kerze eine andere im Zimmer und stapfte dann denselben Weg zurück, den er gekommen war.
In der Kammer sahen die beiden Männer einander an. Das einzige Mobiliar des Zimmers bestand aus zwei Pritschen, zwei Stühlen und einem massiven Tisch.
»Lass uns sehen, ob man die Tür irgendwie sichern kann«, sagte Kane. »Mir gefällt nicht, wie unser Wirt aussieht.«
»An der Tür und am Türstock sind Lager für einen Schließbalken«, stellte Gaston fest, »aber es gibt keinen Balken.«
»Wir könnten den Tisch zerschlagen und seine Stücke als Schließbalken benutzen«, sinnierte Kane.
»Mon Dieu«, grinste l’Armon, »Ihr seid furchtsam, Monsieur.«
Kane sah ihn finster an. »Ich mag es nicht, wenn ich im Schlaf ermordet werde«, antwortete er grimmig.
»Meiner Treu!«, lachte der Franzose. »Der Zufall hat uns zusammengeführt – ehe ich Euch eine Stunde vor Sonnenuntergang auf dem Waldweg überholt habe, hatten wir einander noch nie gesehen.«
»Ich habe Euch schon irgendwo einmal gesehen«, antwortete Kane, »aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wo das war. Und was den Wirt angeht, so nehme ich von jedem Mann an, dass er ein ehrlicher Bursche ist, bis er mir zeigt, dass er ein Schurke ist. Außerdem habe ich einen leichten Schlaf und schlummere mit einer Pistole in Griffweite.«
Wieder lachte der Franzose.
»Ich hatte mich schon gefragt, Monsieur, wie Ihr Euch dazu überwinden könnt, mit einem Fremden in einem Zimmer zu schlafen! Ha! Ha! Also gut, Monsieur Engländer, lasst uns hinausgehen und aus einem der anderen Zimmer einen Schließbalken holen.«
Sie nahmen die Kerze mit und gingen in den Korridor. Völlige Stille herrschte, und die kleine Kerze flackerte in der dichten Finsternis rot und bösartig.
»Unser Wirt hat weder Gäste noch Bedienstete«, murmelte Solomon Kane. »Eine seltsame Taverne! Wie heißt sie doch? Ich kann mir diese deutschen Worte nicht merken – der gespaltene Schädel? Ein blutiger Name, meiner Treu!«
Sie suchten in den Zimmern neben dem ihren nach einem Riegel, aber nirgends wurden sie fündig. Schließlich kamen sie zum letzten Zimmer am Ende des Korridors und traten ein. Es war möbliert wie die anderen auch, nur dass eine kleine Klappe in die Tür eingelassen war, die von außen mit einem schweren, an einem Ende am Türstock befestigten Bolzen gesichert war. Sie hoben den Bolzen und sahen durch die Öffnung.
»Da sollte ein Fenster nach draußen sein, aber da ist keines«, murmelte Kane. »Seht!«
Auf dem Boden waren dunkle Flecken zu sehen. Die Wände und die eine Pritsche zeigten Spuren, dass sie mit einer Axt bearbeitet worden waren, große Splitter waren abgesprungen.
»Hier drinnen sind Menschen gestorben«, sagte Kane düster. »Ist dort nicht an der Wand eine Stange befestigt?«
»Aye, aber sie lässt sich nicht bewegen«, sagte der Franzose, nachdem er daran gezogen hatte. »Die …«
Ein Teil der Wand schwang zurück, und Gaston stieß einen verblüfften Ruf aus. Ein kleiner, geheimer Raum öffnete sich ihnen, und die beiden Männer beugten sich über das grässliche Ding, das in dem Raum auf dem Boden lag.
»Das Skelett eines Menschen!«, sagte Gaston. »Und seht doch, das Bein des Skeletts ist am Boden angekettet! Man hat ihn hier eingeschlossen, und da ist er gestorben.«
»Nein«, widersprach Kane, »der Schädel ist gespalten – ich denke, unser Wirt hat einen unheilvollen Grund für den Namen seiner höllischen Taverne. Dieser Mann war ohne Zweifel ein Wanderer wie wir, der dem Schurken in die Hände gefallen ist.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Gaston nicht sehr interessiert; er war damit beschäftigt, den großen Eisenring von den Beinknochen des Skeletts zu entfernen. Als ihm das nicht gelang, zog er seinen Degen und zerschnitt mit einem bemerkenswert kräftigen Schlag die Kette, die den Ring am Bein mit einem anderen, tief in den Bodendielen eingelassenen Ring
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