Tote gehen nicht
schwieg.
»... die Tabletten gegeben?«, führte Wesseling den Satz zu Ende.
»Sie schweigen sich um Kopf und Kragen«, sagte Wesseling.
Edgar überwand sich und erklärte stockend: »Sie hat mich darum gebeten ... sie hatte Schmerzen ... ich bin Arzt, wie Sie wissen ... ich habe ihr gesagt, sie darf nur eine Tablette täglich nehmen ... ich kann nichts dafür, wenn sie nicht auf mich hört.«
»Warum haben Sie ihr mehr als eine Tablette überlassen?«
»Sie wollte doch noch den ganzen Eifelsteig gehen.«
»Haben Sie noch mehr davon?«
Edgar schüttelte den Kopf.
Wesseling notierte Edgars Antworten. Als er wieder aufblickte, gab er Sonja mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie fortfahren solle.
Sie wunderte sich, dass er den Stab so schnell an sie weitergab. Aber es sollte ihr recht sein, sie fand, dass er bei diesem Verhör das Pferd von hinten aufzäumte.
Sie rückte mit ihrem Stuhl nah an Edgars heran, beugte sich vor, stützte sich auf ihre Oberschenkel und sagte ohne lange Umschweife: »Sie sind ein Stalking-Opfer, Herr Dr. Schramm, kann das sein?«
Er schien nicht sonderlich überrascht über die Wende im Verhör. Im Gegenteil, er senkte ergeben den Kopf, als sei er erleichtert, dass das Wort endlich ausgesprochen worden war.
»Ein Stalker kann gefährlich werden.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Haben Sie Strafanzeige gestellt?«
»Ich wollte es tun«, gab er zu. »Bestimmt, glauben Sie mir, aber im letzten Moment hat sie mir immer leid getan.«
»Ich frage mich«, rief Wesseling dazwischen, »warum wir seit 2007 ein Anti-Stalking-Gesetz, § 238, Strafgesetzbuch, haben?«
»Pah! Ein Gesetz!«, winkte Edgar ab. »Dafür kann ich mir nichts kaufen. Wir haben das unter uns ausgemacht«.
»Kein Kontakt, keine SMS, keine Mails, keine Anrufe, keine Briefe, nichts darf zwischen Ihnen sein. Und zwar nie mehr?«, hakte Sonja nach.
»Ich habe mich daran gehalten.« Edgars Augen blinzelten nervös hinter den schmutzigen Brillengläsern in den Geweihleuchter. »Anfangs hat sie es auch getan und ist nie wieder bei mir zu Hause aufgetaucht. Angerufen hat sie auch nicht mehr.«
»Aber nur die Hälfte aller Stalker gibt allein deswegen auf.«
Edgar zog resigniert die Brille ab.
»Es gibt zwei Regeln, die ein Stalking-Opfer grundsätzlich und unbedingt beherzigen muss: Abstinenz und Transparenz.«
Edgar sah sie ratlos an.
»Ich erkläre es Ihnen. Jede, in Worten jede Reaktion ist Futter für den Täter. Auch Nichtstun. Wenn Sie sich nicht klar abgrenzen, und das für immer und ewig, wird er immer wieder grenzüberschreitende Versuche unternehmen.«
»Mag sein.«
»Haben Sie Ihre Telefonnummer und Mailadresse denn nicht gewechselt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Fragen Sie ihn doch endlich, wie sie heißt!«, bellte Roggenmeier hinter Sonjas Rücken.
»Sie heißt Rita Funke«, sagte Edgar leise.
»Was? Rita?«, rief Guido dazwischen. »Rita Funke? Also doch! Ich werde verrückt.«
»Ruhe«, herrschte Wesseling ihn an.
»Wer ist sie?«, fragte Sonja unbeirrt weiter.
»Wir waren mal ein Paar. Aber es ist nicht gut gegangen mit uns. Sie arbeitet aber noch immer als Krankenschwester bei uns«, erklärte Edgar.
»Sie arbeitet in der Klinik am Wald ?«, wiederholte Sonja.
»Auf der gleichen Station wie ich.«
»Sie sehen sie jeden Tag? Kein Wunder. Das geht nicht! Einer von Ihnen beiden muss gehen! Sie müssen davon ausgehen, dass ein Stalker eine völlig gestörte Wahrnehmung hat. Wenn Sie diese Rita auch nur versehentlich anlächeln, interpretiert sie das als eine Chance, Sie zurückzugewinnen. Wenn Sie ihre Annäherungsversuche erdulden, heißt das für sie, dass Sie sie willkommen heißen. Wenn Sie ihr nur die Tür aufhalten, heißt das für sie, dass Sie ihr helfen wollen. Haben Sie eine neue Freundin?«
»Nein.«
»Wenn sie sieht, dass sie keine neue Freundin haben, heißt das für sie, Sie lieben sie noch.« Sonja seufzte und wiederholte mit drohendem Finger: »Abstinenz und Transparenz.«
Sie ließ Dr. Edgar Schramm Zeit zum Nachdenken. Sie wusste, dass es für den Laien kaum vorstellbar war, was im Kopf eines Stalkers vor sich ging. Aber Edgar war Arzt. Ein Facharzt für innere Krankheiten, der offensichtlich von Psychologie noch nichts gehört hatte. Ein Fachidiot.
»Würden Sie jetzt bitte im Verhör fortfahren?«, hörte Sonja Wesseling nach einer Weile hinter sich fragen. Er war aufgestanden und stand direkt hinter ihr. Sein dezenter Herrenduft verriet ihn. Sie folgte
Weitere Kostenlose Bücher