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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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schließlich. »Es sind genügend Leute da, und Sie nützen mir mehr, wenn Sie …«
    Er sprach nicht zu Ende, weil in diesem Moment zwei heiße nackte Hände um seinen Hals gekrochen kamen. Die eine knöpfte sein Hemd auf und fuhr darunter, die andere fuhr ihm über die Wange. Ein warmer Hauch kitzelte seinen Nacken. Dann ein Brennen von zwei zarten Lippen.
    »Ich höre nichts!« piepste die leise Stimme in seinem Ohr. »Herr Sievers, ich kann Sie nicht mehr hören!«
    Die in Grins Hemd verschwundene Hand ging dort um, daß ihm der Atem stockte.
    »… wenn Sie am Telefon bleiben«, stieß er mit Mühe hervor. »Aber ich hatte Sie doch darum gebeten! Ich sagte Ihnen doch, daß ich über die nötige Erfahrung verfüge!« Der Hörer ließ nicht locker, während eine tiefe Bruststimme ihm etwas ins andere Ohr gurrte: »Grinotschka, Liebster, komm schon …«
    »Befolgen Sie … meine Anweisung«, murmelte Grin in den Hörer und hängte ein.
    Er wandte sich um. Sah ein Licht aufgehen, einen kräftigen rötlichen Schein, der so viel Hitze hatte, daß sein dicker stählerner Panzer sogleich einen Riß bekam. Der Riß wanderte, wurde breiter, und aus ihm hervor strömte etwas Verborgenes, lange Vergessenes, das Verstand und Willen paralysierte.
     
    Die Instruktion begann um halb drei.
    In der Wohnung des Rechtsanwalts (der gerade in Warschau einen spektakulären Prozeß führte, es ging um einen Husaren, der aus unglücklicher Liebe eine leichtsinnige Schauspielerin erschossen hatte) saß man in größerer Runde: elf Männer und eine Frau. Es sprach nur einer. Die anderen, längs dreier Wände des Anwaltskabinetts im Hufeisen sitzend,hörten so aufmerksam zu, daß selbst Kljutschewski, der berühmte Geschichtsprofessor, neidisch geworden wäre.
    An der vierten Wand hing ein mit Stecknadeln befestigter großer Bogen Packpapier, auf den der Instrukteur mit Kohle Quadrate, Kringel und Pfeile gezeichnet hatte.
    Grin war schon auf dem Weg vom Hotel hierher in den Aktionsplan eingeweiht worden, so daß er jetzt nur noch selten auf die Zeichnung, dafür um so mehr in die Gesichter der Zuhörer sah. Der Entwurf war simpel, doch er hatte Hand und Fuß; ob er funktionierte, hing allerdings ganz von den Ausführenden ab, von denen die meisten noch nie an einem Überfall teilgenommen, das Pfeifen der Kugeln noch nicht im Ohr gehabt hatten.
    Verlassen durfte man sich auf Jemelja, Rachmet und Joker selbst. Stieglitz würde sein Bestes geben, doch er war ein Grünschnabel und hatte gleichfalls noch kein Pulver gerochen. Was die sechs Jungen aus der Moskauer Einheit anging, so wußte man nichts Genaues.
    Splint, Arbeiter bei Goujon & Co., und den Medizinstudenten Marat kannte Grin aus der Teestube in der Marossejka. Dort waren sie nur so in Erscheinung getreten, daß sie aus Eifer und mangels Erfahrung viel zu auffällig zu Rachmet herübergeglotzt und sich hierdurch verraten hatten. Die übrigen vier – Arseni, Biber, Schwarz und Nobel (Chemiestudenten die letzteren zwei, ihre Decknamen würdigten die Erfinder des Schießpulvers und des Dynamits) – wirkten erst recht wie Schuljungen. Zu tun bekommen würden sie es mit gestandenen Wachleuten. Und sahen nicht so aus, als hätten sie viel Pulver verschossen in ihrer Progymnasiumszeit.
    In einer Ecke, die Stirn beflissen in Falten gelegt, saß Julie, die hier eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte. WennGrin sie ansah, spürte er, daß er rot wurde, das war ihm bestimmt schon zehn Jahre nicht mehr passiert. Es kostete ihn einige Willensanstrengung, die berückenden Gedanken an das, was sich heute ereignet hatte, nach hinten zu drängen, wo es auf eine tiefer gehende Analyse warten konnte. Seine Selbstachtung und die Stabilität seines Schutzpanzers hatten beträchtlich gelitten, aber das ließ sich gewiß reparieren. Wie genau, war zu überlegen. Nur nicht jetzt.
    Er blickte zu Joker – nicht schuldbewußt, eher abschätzend. Wie würde der Experte reagieren, bekäme er Wind davon? Die Aktion würde jedenfalls platzen, soviel schien klar, denn nach dem in der Ganovenwelt geltenden moralischen Kodex war Joker eine tödliche Beleidigung zugefügt worden. Hierin bestand die hauptsächliche Gefahr, sagte sich Grin – und brauchte Julie nur ein weiteres Mal anzuschauen, um es besser zu wissen: Die Hauptgefahr war natürlich sie.
    Weil sie wußte, wie stählerner Wille und eiserne Disziplin zu knacken waren. Weil sie das blühende Leben war, das sich bekanntlich über alle Regeln und

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