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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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der Lampe. Vor sich einen Band der neumodischen
Zeitschrift für ausländische Literatur
.
    »Fandorin!« rief er enthusiastisch. »Fein, daß Sie vorbeikommen. Nehmen Sie doch Platz.«
    Die Zeitschrift beiseite legend, setzte er ein entwaffnendes Lächeln auf.
    »Sind Sie mir böse, daß ich Ihnen den Fall aus der Hand genommen habe? Das kann ich verstehen, an Ihrer Stelle wäre ich damit auch nicht einverstanden. Doch die Anweisung kam von ganz oben, das ließ sich nicht ändern. Ich bedaure nur, daß ich so die Möglichkeit versäume, mich Ihres analytischen Talents zu bedienen, von dem man so viel hört. Sie in die Arbeit einzuspannen, wage ich nicht, insofern ich Ihnen nicht vorgesetzt bin. Doch wünschte ich mir, offen gestanden, sehr, daß Sie auch auf eigene Faust zu Ergebnissen gelangen mögen. Gibt es vielleicht schon etwas zu berichten?«
    »Was könnte das sein, wo Sie doch alle Fäden in der Hand halten?« versetzte Fandorin mit gespieltem Gleichmut. »Aber hier scheint es auch nicht viel Neues zu geben?«
    »Gwidon wird überwacht«, erwiderte der Fürst. »Das kann nur gut sein. Er fängt schon jetzt an, seine ehemaligen Genossen dafür zu hassen, daß er sie verraten hat. Sie werden sehen, vor lauter Nervosität wird dieser Haß noch krasse Formen annehmen. So weit kenne ich die menschliche Natur. Und die des Verrats im besonderen, das bringt der Beruf so mit sich.«
    »Meinen Sie denn, daß V-verrat immer demselben Muster folgt?« fragte der Staatsrat, den das Thema wider Willen zu interessieren begann.
    »Durchaus nicht, es gibt ihn in unendlich vielen Varianten. Verrat kann aus Angst geschehen oder aus Verdruß, aus Liebe, aus Ehrgeiz, aus den unterschiedlichsten Gründen. Selbst Verrat aus Dankbarkeit kommt vor.«
    »D-dankbarkeit?«
    »Jawohl. Dazu könnte ich Ihnen einen Fall aus meiner Praxiserzählen.« Posharski entnahm seinem Zigarettenetui eine dünne Papirossa, rauchte sie genüßlich an. »Einer meiner besten Agenten war eine liebe, herzensgute, uneigennützige alte Frau. Eine Seele von Mensch! Ihr einziger Sohn, ihr ein und alles, hatte sich in der Torheit seiner Jugend in eine Sache eingelassen, auf die die Strafkolonie stand. Da kam die Alte zu mir, hat geheult und gefleht, hat mir ihr ganzes Leben erzählt. Der ich damals auch noch jünger war, sanftmütiger als heute … Sie tat mir leid. So daß ich mich, im Vertrauen gesagt, sogar eines Dienstvergehens schuldig gemacht habe, irgendwelche Papiere aus der Akte verschwinden ließ. Kurzum, der Junge kam frei, kam davon mit einer väterlichen Rüge, die auf ihn allerdings nicht den geringsten Eindruck machte. Er ließ sich erneut mit den Revolutionären ein, führte ein Lotterleben. Und was glauben Sie: Das Mütterlein, mir von Herzen dankbar, hat von da an die wertvollsten und verläßlichsten Informationen geliefert. Die Genossen ihres Sohnes kannten sie ja seit langem als fürsorgliche Gastgeberin, hüteten vor der arglosen Alten ihre Zungen nicht, führten die ungezwungensten Reden. Sie brachte, um ja nichts zu vergessen, alles sorgfältig zu Papier und kam damit zu mir. Einmal stand der Bericht auf der Rückseite eines Kochrezepts. Tja. Wer Gutes tut, dem wird’s entgolten, wie man so schön sagt.«
    Fandorin hatte die erbauliche Geschichte zunehmend gereizt verfolgt und konnte am Ende nicht an sich halten.
    »Aber sagen Sie, Herr Posharski, war Ihnen das kein bißchen z-z-… zuwider? Eine Mutter zur Denunziation ihres eigenen Sohnes anzuhalten?«
    Posharskis Antwort kam nicht sogleich. Und als er zu sprechen anhob, war alle Launigkeit aus seiner Stimme verschwunden; er klang ernst und ein wenig müde.
    »Herr Fandorin, Sie machen auf mich den Eindruck eines klugen und reifen Mannes. Muß man denn auch Ihnen genau wie dem rotbäckigen kleinen Offizier von gestern erklären, daß dies für Moral und Lauterkeit nicht die Zeit ist? Sehen Sie denn nicht, daß wir Krieg haben? Einen richtigen, brutalen Krieg?«
    »Das sehe ich. Und ob ich das sehe!« Fandorin ereiferte sich. »Doch auch im Krieg existieren Regeln. Und auf Spionage, die sich feindlicher Illoyalität bedient, steht üblicherweise der Strang.«
    »Ich spreche nicht von einem Krieg, auf den sich irgendwelche Regeln anwenden ließen«, erwiderte der Fürst ebenso hitzig. »Wie zwischen zwei zivilen europäischen Staaten zum Beispiel. Nein, Herr Fandorin. Was hier läuft, ist der wilde, urzeitliche Krieg des Chaos gegen die Ordnung, des Ostens gegen den Westen, der

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