Tote Kehren Nicht Zurück
ein Wunder kleine Pflanzen Fuß gefasst hatten. Sie hatte den Garten fast völlig umrundet, ohne eine Spur von Luke zu sehen, als sie einen Platz erreichte, wo ein Stück der Mauer beschädigt war. Der Schaden ging auf eine mächtige Rosskastanie zurück, die auf der anderen Seite wuchs. Einer der dicken Äste ruhte direkt auf der Mauer. Im Verlauf der Zeit hatte er die oberen Steine weggedrückt, und sie lagen in einem grasüberwucherten, unordentlichen Haufen am Fuß der Mauer. Der Ast reichte bis fast auf den Boden herab und bildete eine Art natürliche Gartenbank. Meredith setzte sich darauf. Es war eine Schande, dass der Garten so vernachlässigt war, denn er hatte eine Menge zu bieten. Meredith fragte sich, ob Luke als kleiner Junge Kastanien gesammelt hatte, wie alle Kinder es im Spätsommer machten. Sie hatte es als Kind ebenfalls getan und mit großem Vergnügen die runden, stacheligen Kugeln geöffnet, in denen die wunderschönen, mahagonibraunen Früchte ruhten. Dann mit den Kastanien in die Küche, ein Loch hineingebohrt mit einem Fleischspieß, ein Stück Schnur hindurchgezogen und schließlich – die Kastanienkämpfe! Sie strich in Erinnerungen schwelgend mit der Hand über die dunkle Rinde und runzelte die Stirn. Die Rinde war übersät von langen, relativ frischen Kratzern. Meredith konnte den Baumsaft riechen. Sie sah nach oben, am Stamm entlang. Ein Vogel raschelte in den Zweigen, das einzige Lebewesen weit und breit. Einem Impuls gehorchend stand sie auf und kletterte auf den Ast, während sie mit ausgestreckten Händen ihr Gleichgewicht hielt. Man konnte auf diese Weise ohne Schwierigkeiten den Ast hinauf bis zur Mauerkrone gelangen. Dort angekommen, konnte man mit ein wenig Geschick und dem Risiko, sich ein paar Schrammen zuzuziehen, über den Stamm hinweg zu einem weiteren Ast gelangen, der sich auf der gegenüberliegenden Seite der Trockenmauer dem Boden entgegen neigte. Obwohl Meredith längst nicht mehr an derartige Bewegungen gewöhnt war, glitt und rutschte sie über den Ast und landete schließlich auf der anderen Seite. Sie stieß einen leisen Pfiff aus. Man musste ein wenig gelenkig sein, doch der Baum bildete nichtsdestotrotz eine sehr gut nutzbare
»Trittleiter« über die Mauer, einen leicht nutzbaren Weg in den Garten der Penhallows und wieder hinaus. Die Kratzer in der Rinde waren auch auf dem Ast zu sehen, der sich auf der anderen Seite der Mauer befand. Irgendjemand war erst vor kurzer Zeit auf diesem Weg in den Garten gelangt und hatte ihn auch wieder verlassen. Vielleicht waren es Kinder, sinnierte Meredith, oder Beamte der Polizei, die das Grundstück abgesucht hatten. Trotzdem war es vielleicht eine nähere Untersuchung wert. Meredith blickte sich um. Sie stand auf einem ausgetretenen Pfad, der an der Seite des Penhallow’schen Grundstücks entlangführte, bevor er nach links abbog und sich, wie es aussah, hinter den Reihencottages herzog. Meredith setzte sich in Bewegung und folgte ihm. Wie sie vermutet hatte, führte er hinter den Cottages entlang und endete dann auf einer freien, grasbewachsenen Fläche. Dahinter lag die Tankstelle mit ihren Zapfsäulen, den großen Fenstern und schrillen Farben. Auf der freien Fläche stand ein alter Wagen. Die Motorhaube war offen, und zwei Gestalten standen über die Maschine gebeugt, ein Mann und eine Frau, beide in ihr Tun vertieft. Während Meredith sie beobachtete, richtete sich der Mann auf und wischte sich mit dem Rücken einer ölverschmierten Hand über die Stirn.
»Ich will sehen, was ich tun kann, Irene. Aber du solltest wirklich überlegen, ob du dieses alte Wrack nicht bald abstößt.« Die Frau richtete sich ebenfalls aus ihrer gebückten Haltung auf, und Meredith sah, dass es Mrs Flack war, die Haushälterin von Tudor Lodge.
»Ich behaupte ja nicht, dass du Unrecht hast, Harry, aber ich kann mir einfach keinen neuen Wagen leisten, und das war’s zu diesem Thema.«
»Ich halte die Augen für dich offen«, versprach der Mann namens Harry. Meredith sah nun auch, dass er einen Overall trug, und sie erkannte in ihm den Tankstellenbesitzer. Harry Sawyer war Ende vierzig, hatte ein langes, schmales Gesicht, eine gerade Nase und eng zusammenstehende Augen, was ihm alles zusammengenommen das Aussehen eines gutmütigen Pferdes verlieh. In diesem Augenblick bemerkte Sawyer, dass er nicht mehr mit Irene Flack allein war.
»Hallo, woher sind Sie denn gekommen?« Mrs Flack drehte sich um und sah Meredith überrascht
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