Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
durchsichtigen Plastikbeutel, den Claudel in der Hand hielt. Darin waren ein blaßgelber Latexhandschuh mit dunkelbraunen Flecken und etwas Flaches, das wie eine Photographie mit weißem Rand und schwarzem Hintergrund aussah. Ryans Hände drückten meine Schultern fester. Ich starrte ihn fragend an und hatte bereits Angst vor der Antwort, die er mir geben würde.
»Wir kümmern uns später darum«, meinte er.
»Nein, ich will es jetzt sehen«, sagte ich und streckte eine zitternde Hand nach dem Plastikbeutel aus.
Claudel zögerte einen Augenblick, gab ihn mir dann aber. Ich nahm ihn, packte durch die Folie einen Finger des Handschuhs und schüttelte ihn so lange, bis sich das Photo davon löste. Dann drehte ich den Beutel so, daß ich das Bild sehen konnte.
Es zeigte zwei Frauen, die Arm in Arm am Meer standen. Der Wind blies ihnen die Haare aus dem Gesicht, und im Hintergrund brachen sich die Wellen. Mein Atem beschleunigte sich. Bleib ruhig, Brennan. Bleib ruhig.
Der Strand von Myrtle Beach – 1992. Ich. Katy. Der Bastard hatte ein Bild von meiner Tochter meiner ermordeten Freundin mit ins Grab gegeben.
Niemand sagte ein Wort. Ich sah, wie Charbonneau auf uns zukam. Er stellte sich neben Claudel und sah Ryan an. Der nickte. Dann standen die drei Männer eine Weile schweigend da. Keiner wußte, was er sagen oder tun sollte, und ich hatte nicht das Gefühl, ihnen helfen zu müssen. Schließlich brach Charbonneau das Schweigen.
»Na los, schnappen wir uns den Hurensohn.«
»Haben Sie einen Haftbefehl?«
»Bertrand bringt ihn mit. Als wir die… die Leiche gefunden haben, hat der Richter ihn sofort ausgestellt.« Er sah mich kurz an und gleich wieder weg.
»Ist der Kerl denn in seiner Wohnung?«
»Seit wir das Haus beobachten, ist keiner mehr heraus oder hineingegangen. Ich finde, wir sollten nicht länger warten.«
»Stimmt.«
Ryan wandte sich an mich. »Richter Tessier sieht hinreichende Verdachtsmomente und hat einen Haftbefehl ausgestellt. Wir fahren jetzt los und kassieren den Kerl, den Sie Donnerstag nacht verfolgt haben. Ich werde Sie an ihrer Wohnung –«
»Kommt nicht in Frage, Ryan. Ich komme mit.«
»Br –«
»Falls Sie es schon vergessen haben sollten: Ich habe eben die Leiche meiner besten Freundin identifiziert. Sie hatte ein Bild von mir und meiner Tochter bei sich. Ganz gleich, wer sie getötet hat, ob dieses schleimige Stück Scheiße oder irgendein anderer Psychopath, ich werde alles tun, um ihn lebenslang hinter Gitter zu bringen. Ich werde ihn jagen und zur Strecke bringen, notfalls auch ohne Sie und Ihre Leute.« Mein Finger stach wie ein Hydraulikkolben in die Luft. »Ab sofort werde ich überall hin mitkommen.«
Meine Augen brannten, und mein Brustkorb begann sich zu heben und zu senken. Jetzt nur nicht losheulen, dachte ich. Bloß nicht. Mit Mühe gelang es mir, meine Hysterie niederzuringen. Die drei Männer sahen mich an, ohne ein Wort zu sagen.
» Allons-y «, sagte Claudel schließlich.
35
Gegen Mittag waren die Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit so hoch, daß so gut wie alles Leben in der Stadt erstarb. Bäume, Vögel, Insekten und menschliche Wesen bewegten sich in der drückenden Hitze so wenig wie möglich. Wer konnte, hielt sich innerhalb eines Gebäudes auf.
Die Fahrt ähnelte der am Feiertag des Heiligen Johannes. Die gespannte Stille im Wagen, der Geruch nach Schweiß in der kühlen Luft der Klimaanlage. Auch die Angst in meinem Bauch war dieselbe. Nur Claudels säuerliche Kommentare fehlten. Er war mit Charbonneau in einem anderen Wagen gefahren und wollte uns am Einsatzort treffen.
Auch der Verkehr war anders. Auf unserer Fahrt in die Rue Berger hatten wir uns durch die Masse feiernder Menschen kämpfen müssen, heute glitten wir fast leere Straßen entlang, so daß wir nur zwanzig Minuten später vor dem Haus unseres Verdächtigen waren. Als wir um die Ecke bogen, sah ich Bertrand, Charbonneau und Claudel in einem zivilen Polizeifahrzeug sitzen. Bertrands Auto parkte dahinter. Der Lieferwagen der Spurensicherung stand am Ende des Blocks. Gilbert saß am Steuer, und ein Techniker neben ihm lehnte sich ans Fenster.
Die drei Detectives stiegen aus, als wir uns ihrem Fahrzeug näherten. Die Straße sah so aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, nur daß das Tageslicht den allgegenwärtigen Verfall noch gnadenloser zeigte als es der trübe Schein der Straßenbeleuchtung vermocht hatte. Mein T-Shirt klebte mir an der schweißnassen Haut.
»Wo sind die Leute,
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