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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Giles
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Mann, er wurde gewissermaßen eine andere Person, verstehst du?« Jazz fuchtelte mit ihrem Löffel herum. »Er traf zum Beispiel irgendjemanden auf der Straße, unterhielt sich ein oder zwei Minuten mit ihm, und wenn er dann weiterging, war er dieser andere. Sogar auf den Fotos seiner Model-Mappe fällt das auf: Einmal ist er ein knallharter Gangster, gefährlich und mit höhnischem Grinsen, auf dem nächsten Foto dann ein versnobter Ralph-Lauren-Schönling, eiskalt und unnahbar.«
    »Klingt so, als hättest du ihn gemocht«, sagte ich.
    Jazz aß erst einen weiteren Löffel Eis. Sie runzelte nachdenklich die Stirn, während sie kaute und schluckte. Dann klopfte sie mit dem Löffel gegen den Rand des Schälchens. »Weißt du, ich denke schon. Zuerst hat sich Rhonda gefreut, dass Emory und ich uns so toll verstehen, aber dann wurde sie ... ich weiß nicht ... irgendwie zickig deshalb.«
    »Eifersüchtig?«
    »Wahrscheinlich. Ich habe ja geschrieben, dass wir nicht besonders gut miteinander auskamen und ich deshalb den Job bei dem Ensemble angenommen habe. Ein Engagement bei einem reisenden Ensemble ist nicht gerade ein Traumjob, weil du keine Chance hast, dich bei den interessanten Vorsprechterminen in New York zu präsentieren. Aber die Stimmung zu Hause war ein bisschen zu angespannt.«
    Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut dem Eis zu.
    »Was passierte mit Emory?«, wollte ich wissen.
    Jazz legte den Löffel hin. »Ich denke, er starb bei dem Brand.« Ihre Antwort war nur ein Flüstern. »Als ich nach New York zurückkehrte und erfuhr, dass unser Haus abgebrannt war, rief ich in der Wohnung an, wo er gelebt hatte. Die Vermieterin teilte mir mit, dass er nicht mehr dort wohnte. Ich fragte sie, seit wann er weg sei: Er war in derselben Woche ausgezogen, in der ich abgereist war. Der Polizei habe ich auch von Emory erzählt. Sie überprüfen das und forschen nach, ob jemand von ihm gehört hat.«
    Sie griff wieder nach dem Löffel, tippte damit aber nur abwesend gegen das Teeglas. »Ich vermute, Rhonda hatte vor, mich aus meiner eigenen Wohnung zu werfen.«
    Ich nickte, blickte Jazz jedoch nicht an. In meinem Gehirn jagten sich die Gedanken und ich konnte kaum folgen.
    »So, genug von der nicht ganz toten Jazz. Erzähl mal, was hier los ist. Ich bin gar nicht mehr auf dem Laufenden seit ich ... ähm ...« Jazz verzog die Mundwinkel zu einem schiefen, verlegenen Lächeln.
    »Seit du abgehauen bist?«
    »Ja, genau, ich denke, das trifft es wohl«, stimmte Jazz achselzuckend zu.
    Ich zog mit dem Löffel Kreise in dem Gemisch aus Browniebröseln und geschmolzener Eiscreme auf dem Boden meines Schälchens und ließ die Stille Raum gewinnen, während ich an Jazz' Aufbruch zurückdachte.
    Ihr Schulabschluss im vergangenen Mai war mit großem Pomp gefeiert worden. Mom hatte sich früher von der Abschlussfeier davongeschlichen, um zu Hause das Familienfest vorzubereiten. Nachdem wir dort Kuchen gegessen hatten und Jazz beglückwünscht worden war, ging sie nach oben, um sich umzuziehen. Sie wollte für ein Wochenende nach New Braunfels fahren und dort mit Freunden im Wasserpark und bei Partys richtig Gas geben. Als ihre Freunde draußen hupten, sprang Jazz mit einer vollgepackten Reisetasche die Treppe runter, winkte noch einmal fröhlich zum Abschied und verschwand.
    Sie kam nicht zurück.
    In einem langen Brief auf gelbem Briefpapier, der an einem Kissen auf ihrem ungemachten Bett lehnte, teilte uns Jazz mit, dass sie nach New York gehe. Sie würde Schauspielerin werden. Da sie achtzehn war, könnten unsere Eltern sie nicht zwingen, zurückzukommen. Sie wünschte, sie hätte unsere Eltern nicht so enttäuschen müssen, aber ihr sei klar, dass Mom und Dad alles versucht hätten, um sie am Gehen zu hindern. Dann versprach sie noch, zu schreiben und anzurufen, und hoffte, dass wir verstehen würden, dass sie keine Adresse oder Telefonnummer angeben könne.
    In dem Brief stand noch viel mehr, Zeile um Zeile Erklärungen: dass sie das Bedürfnis habe, frei zu sein, ihre Flügel ausbreiten müsse, und so weiter und so fort. Für mich war der Brief typisch Jazz, egozentrisch und ohne Rücksicht auf die Verzweiflung unserer Eltern.
    Aber Mom und Dad traf es völlig unvorbereitet. Sie hatten diese Jazz nie kennengelernt. Solange Jazz sie brauchte, manipulierte sie die beiden mit ihrem Charme. Jetzt, da sie überflüssig waren, ließ sie Mom und Dad hinter sich wie Altlasten. Mom gab Dads Trinkerei die Schuld, Dad Moms vereinnahmendem

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