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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Giles
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als ein hübsches Gesicht.« Sie legte das Foto beiseite, blickte mich im Spiegel an und fragte: »Wie hast du mich ertragen?«
    Ich blickte Jazz sprachlos an, suchte nach irgendetwas, das ich antworten könnte, aber mir kam nichts in den Sinn. Dann fiel mir das Badewasser ein.
    »Wir kommen nur noch schwimmend aus dem Zimmer, wenn ich nicht gleich das Wasser abdrehe.«
    Gleichzeitig stürzten wir auf die Tür zu, verhedderten uns und fielen hin. Jazz streckte die Arme aus und umarmte mich spontan.
    Dad hatte recht, ihr Haar roch wie das von Jazz.
    Ein paar Sekunden vergingen. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, sie auch zu umarmen. Also rappelte ich mich auf und streckte die Hand aus. »Komm, ich helf dir.«
    »So wie allen«, entgegnete Jazz. Sie ergriff meine Hand und zog sich daran hoch. »Es wird jetzt besser, Sunn. Ich bin hier, um zu helfen.«
    Nie hatte ich mich meiner Schwester so verbunden gefühlt. Ich hatte noch nie so etwas wie Zuneigung für sie empfunden. Das Ganze begann, mich zu verwirren. Das war die Schwester, von der ich immer geträumt hatte. Mom nahm sie als Tochter an, warum konnte ich sie nicht einfach als Schwester akzeptieren? Zulassen, dass sie mir half, die Last zu tragen, die unsere Familie darstellte?
    Weil sie nicht echt war. Jedenfalls nicht die echte Jazz.
    »Hey, nimm dein Bad, bevor wir eine Arche bauen müssen«, sagte ich. »Ich packe deine Tasche für dich aus.«
    »Schon erledigt. Aber mach es dir solange bei mir im Zimmer gemütlich. Wir brauchen einen Schlachtplan, um diese Familie auf Vordermann zu bringen.« Sie machte einen Knicks vor mir wie eine Dienerin vor der Königin. »Also dann, ich möchte schließlich das herrliche Bad nicht kalt werden lassen.« Sie trat zurück und schloss die Tür.
    Ich ging zum Bett hinüber und setzte mich. Während ich prüfend den Blick schweifen ließ, listete ich in Gedanken die Veränderungen auf. Mom hatte in dem Zimmer nichts angerührt, seit Jazz weg war. Es war ein Denkmal ihrer Unordnung. Jazz hatte ihre Klamotten einfach da fallen gelassen, wo sie sie auszog, und dann darauf gewartet, dass sie wie durch Zauberhand verschwanden und frisch gewaschen, auf Bügel gehängt oder ordentlich zusammengelegt wieder auftauchten.
    Aber dort, wo dieses Mädchen im Zimmer Hand angelegt hatte, herrschte militärische Ordnung. Kamm und Bürste lagen genau ausgerichtet auf dem Frisiertisch. Die Bilderrahmen daneben hatte sie gerade gerückt und die Tischplatte abgestaubt. Ein Roman, aus dem ein Lesezeichen ordentlich einen Zentimeter herausragte, lag auf dem Nachttisch im rechten Winkel zur Tischkante.
    Ich stand auf, um einen Blick in den Schrank zu werfen. Die Doppeltüren waren fest geschlossen. Schon wieder falsch. Als ich sie öffnete, erinnerte der Anblick an ein Regiment in Reih und Glied: Die Kleidung war akkurat aufgehängt, die Ärmel waren präzise ausgerichtet, gleiche Abstände trennten die Bügel und die Schuhe standen auf dem Boden aufgereiht wie Soldaten bei einer Parade.
    Die Reisetasche fand ich auch. Leer. Sie war vollständig ausgeräumt hinten im Schrank verstaut. Ich ging zum Bett zurück und öffnete die Schublade des Nachttisches. Darin lag in einer Ecke ordentlich eine schwarze Brieftasche, daneben eine Packung Kosmetiktücher in Reisegröße und darunter ein Buch, das wie ein übergroßes Tagebuch aussah. Ich schnappte mir die Brieftasche, klappte sie auf und fand einen in New York ausgestellten Führerschein. Vom Foto lächelte mir Nicht-Jazz entgegen, daneben stand der Name meiner Schwester, ihre Haar- und Augenfarbe, ihr Gewicht sowie eine New Yorker Adresse. In den anderen Fächern waren sorgfältig eine Visakarte und ein Sozialversicherungsausweis verstaut, beide waren auf Jazz' Namen ausgestellt. Der Sozialversicherungsausweis war alt und verknittert. Es bestand kaum Zweifel, dass es Jazz' Versicherungsnummer war. Das Mädchen war zu vorsichtig, um irgendetwas dem Zufall zu überlassen.
    Gerade als ich nach dem großen Tagebuch greifen wollte, hörte ich, wie das Wasser aus der Wanne ablief. Ich schloss die Schublade. Das musste warten. Ich lehnte mich zurück und fläzte mich gespielt lässig auf das Bett.

 
10. Kapitel
    J azz aus dem Badezimmer trat, hatte sie ein Handtuch um den Körper gewickelt und trocknete mit einem anderen ihre Haare ab.
    »Das war großartig. In unserer New Yorker Wohnung hatten wir nur eine Dusche, in die man sich hineinzwängen musste. Und in Vermont gab es nur Gemeinschaftsduschen.

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