Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Treppe hoch. Die benutzten Schälchen ließ ich auf dem Tisch stehen.
12. Kapitel
A uf der Treppe hörte ich leises Gemurmel aus Moms Zimmer dringen. Ich schlich lautlos über den Flur und blieb vor der angelehnten Tür stehen.
»Mom, Sunny war die ganze Zeit hier und hat dir geholfen und du scheinst sie nicht einmal wahrzunehmen. Dad verhält sich genauso. Warum behandelt ihr sie so?«
Moms Antwort klang wehmütig und ein wenig bittend. »Ach, Jazz, Sunny will gar nicht, dass wir sie anders behandeln. Sie bleibt auf Distanz, ist verschlossen. Sie war sogar als Baby alles andere als liebenswert.«
Ich schloss die Augen.
»Mom, alle Babys sind süß.«
Ich hörte die Bettfedern knarren.
»Jazz, Liebling, das ist eine lange, komplizierte Geschichte.«
»Ich habe nichts vor.«
Ich rückte näher an die Tür.
Moms Stimme war leise und traurig, als sie fortfuhr: »Bei deiner Geburt lebten wir in New York, in Greenwich Village. Dein Vater liebte seinen Job und wir waren glücklich. Aber in dem Jahr, als du fünf wurdest, sind mehrere Dinge auf einmal passiert.«
»Was?«, hakte Jazz nach.
Ich lehnte mich an die Wand. Das Mädchen war nicht einfach nur gut, es war unheimlich gut. Bis zum Abend würde Nicht-Jazz genug über die Familiengeschichte der Reynolds wissen, um an einer Quizshow teilzunehmen.
»Ich wurde im Park ausgeraubt. Ich bin dort immer mit dir spazieren gegangen, du hast in einem roten Holzleiterwagen gesessen, weißt du noch?«
Man hörte, dass Jazz bei ihrer Antwort lächelte: »Aber sicher.«
»Der Mann rannte auf mich zu und griff nach meiner Handtasche. Als er sie mir wegriss, bin ich gestürzt. Ich fiel auf den Leiterwagen und du bist deshalb auf den Gehsteig gefallen. Du hast dir dabei drei Finger und ich mir den Fußknöchel gebrochen.« Mom hielt inne. »Ich glaube, ich wurde hysterisch. Ich war im vierten Monat schwanger und hatte Angst, ich würde das Baby verlieren.«
Ich hörte sanfte, beruhigende Töne von Jazz.
»Wir beide wurden geschient und verbunden und mit Jod eingepinselt. Aber Verbände heilen nicht alles. Ich wollte nicht in New York bleiben. Ich war keine Großstadtmaus. Nur eine Maus.« Mom seufzte. Es klang wie ein Reifen, der Luft verlor.
»New York hatte ich eigentlich nie gemocht. Ich fühlte mich unwohl in der ganzen Hektik. Aber ich brauchte einen Vorwand. Und ich schätze, da hatte ich einen gefunden - oder er mich.«
»Mach dir deshalb keine Gedanken, Mom. Wie ging es weiter?«
»Momma und Dad hatten aus heiterem Himmel unglaubliches Glück. Sie hatten einen Teil unseres Lands an eine Ölfirma verpachtet und die ist auf ein Vorkommen gestoßen. Plötzlich waren meine Eltern reich. Dad entschied, dass er irgendwo anders als in Texas leben wollte. Und da Momma nie das alte Haus verkauft hätte, bekam ich es.«
Ich wusste recht genau, wie es weiterging: Mom stellte Dad ein Ultimatum. Er könne entweder allein in New York bleiben oder mit ihr und Jazz in Texas leben. Er kam mit, aber er hasste es. Und da wurde ich geboren. Der absolute Gegenpol zu Jazz - zu Jazz, die wie ein Engel schlief, alles gern aß und mit einem Lächeln auf die Welt gekommen war.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Gespräch der beiden, als Mom erneut seufzte.
»Aber Sunny kam mit geballten Fäusten auf die Welt. Sie hatte Koliken, bis sie acht Monate alt war, und dann bekam sie Zähne. Sie weinte nicht, sie brüllte. Sie schlief nie und spuckte ihr Essen aus. Das Einzige, was sie mochte, war ihr Bad. Nur im Wasser schrie sie nicht.«
Mom lachte, leise und kläglich. »So war sie wenigstens immer sauber. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Kind an einem einzigen Tag gebadet habe. Dan fing an, in Bars rumzuhängen und zu trinken, aber seine Kolumnen waren immer noch gut. Wenn er abends nach Hause kam, war Sunny am Schreien, ich weinte und du - du hast dich gefreut, ihn zu sehen.«
»Was war los mit Sunny?«
Mom fing an zu weinen. »Ich glaube, sie hat all die Traurigkeit und Unzufriedenheit in unserem Haus in sich aufgenommen. Einfach aufgesaugt. Als sie sprechen lernte, schlug sie mit Worten zurück.«
Es folgte ein langes Schweigen. »Ich denke, Dan hat ein wenig Angst vor Sunny. Sie ist die Einzige in der Familie, die sich nicht unterkriegen lässt. Und ich bin ...« Mom stockte. »Es macht mich traurig, dass Sunny so wütend ist, aber ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll. Und ich bin zu müde, um es herauszufinden.«
Ich hatte genug über meine Fehler und
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