Tote Mädchen
zurück), umso öfter stießen wir auf Fresken, die die Trostlosigkeit unseres Weges widerspiegelten ‒ eine sinnlose, sterile Parallelwelt, die uns in die Irre führte und sich weigerte, den Hall unserer Schritte zurückzuwerfen. Und dann erfüllte das Licht, das wie in einem Regenwald immer diffuser wurde, einen Korridor, der von Türen gesäumt war. Manche der Türen waren zweidimensional, nur aufgemalt, andere allem Anschein nach echt. (Ich sah, wie sich eine öffnete, nur einen Spalt, und zum Vorschein kam ein grünes, von Finsternis eingerahmtes Auge.) Wir taumelten immer tiefer in die Dunkelheit hinein; Treppen führten abwärts, und je weiter wir hinabstiegen, desto grüner wurde das Licht, bis es bald mehr zu verbergen denn zu enthüllen schien. Ein unbekanntes Gesicht, das sich aus der grellen Beleuchtung erhob, schien einmal, zweimal aufzuflackern und verschwand dann wieder; zurück blieb nur ein Hauch von Parfum, ebenso durchdringend wie elektrisierend. Wir befanden uns in irgendeinem Tiefkeller, den Katakomben der Welt, als die Wände sich zu krümmen begannen und meine Augen immer verzweifelter nach einem Halt suchten. Türen. Noch mehr Türen. Eine war aus dem Rahmen gebrochen; dahinter ein schlichtes Schlafzimmer, leer bis auf einen Frisiertisch und ein schmiedeeisernes Bett (unter dem Bett eine Sandalette, der hohe, schmale Absatz abgebrochen) ‒ ein Zimmer, das lautlos, aber beharrlich danach rief, sich mehr als nur kleinen Freuden hinzugeben. Eine Haarnadelkurve, und der Gang endete, wie ein grüner Regenbogen, vor einem Portal aus Blattgold: Türen, hinter denen sich Belsazars Bankettsaal befinden mochte. Wieder erhaschte ich aus den Augenwinkeln einen Blick auf jenes Gesicht, bevor es wieder verschwand, und zurück blieben nur die Worte »Oh party time« und die Erinnerung an diesen elektrisierenden Duft. Jo, unser Psychopomp, stemmte sich gegen die Türen, und diese öffneten sich ächzend; andere Gesichter, die Gesichter von Schwestern, spähten durch den Spalt, und Musik, krasse Musik brachte die Luft zum Tanzen wie ein riesiger Schwarm fiebriger grüner Mücken.
»Primavera, mir gefällt das nicht. Mir ist übel. Ich will, ich will ...«
»Halt den Mund, Iggy. Dir ist nicht übel. Mach die Augen auf. Es geht los, kapierst du das nicht? Endlich. Es ist real. Es ist wahr. Alles, wovon ich immer geträumt habe!«
Der Ballsaal war eine Drachenhöhle voller leicht beschädigter Möbel und mottenzerfressener Wandteppiche, zumeist in jenem Art nouveau- und Art déco-Stil, der während der Aube du millénaire so populär gewesen war. Eine Gruppe von feiernden Puppen in Maskenballkostümen, die offenbar die Ruinen der besseren Wohnviertel geplündert hatten, führte einen Hoftanz auf, ausgerechnet zur Begleitung eines Saxofons und eines Bluespianos. Woher kam die Musik? Aus dem Nichts, wie es schien ‒ eine Art von Sphärenjazz.
Wie ein fünfzackiger Stern angeordnet und eine Armeslänge voneinander entfernt marschierten die Puppen im Uhrzeigersinn und dann, sobald sie eine Umdrehung vollendet hatten, gegen den Uhrzeigersinn; ihre in Satin gekleideten Füße schlurften über die Bretter wie extrafeines Sandpapier. Andere maskierte Puppen, die ebenfalls schäbige Ballkleider trugen, lehnten an den Wänden oder hatten sich in Alkoven niedergelassen, wo sie sich mit Gebilden aus Papier und Elfenbein Luft zufächerten; eine Anspannung lag in der Luft, als könnten sie jeden Moment die Beherrschung verlieren. Hinter den Mauerblümchen, hinter den Tänzern befand sich ein Podium mit einem Thron, auf dem ein Mädchen saß, das kaum älter zu sein schien als Primavera. Sie war mit sieben Sternen gekrönt, und an ihrer Seite saß ein dünner, blasser Mann. Das Mädchen ließ einen Fächer aufschnappen und winkte uns damit zu.
»Kommt«, sagte Jo, »Titania hat euch eine Audienz gewährt.« Wir schlängelten uns durch das sich drehende Pentagramm maskierter Puppen, bis wir vor dem Podium standen. Jo machte einen Knicks. »Euer Majestät, wir haben zwei Gäste. Miss Primavera Bobinski und ... einen Jungen.«
Rüschen raschelten, als die kindliche Königin sich vorbeugte und uns, das Gesicht hinter einer mit Pailletten besetzten Maske verborgen, ansprach.
»Hat der Junge einen Namen?« Ihre Stimme klang wie das Flöten eines mechanischen Vogels.
»Ignatz, Euer Majestät«, sagte Primavera mit einem unsicheren Lächeln und fügte mit unfeinem Enthusiasmus, der möglicherweise gegen die Hofetikette
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