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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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schwarze Scheibe übrig war, klein und undurchdringlich, von einem grünen Strahlenkranz umgeben. Mir kamen frittierte Grashüpfer hoch. »Macht schon«, rief sie, ihre Stimme leise, aber eindeutig verzweifelt.
    »Eins ist sicher«, sagte Morgenstern. »Hier bleibe ich nicht.«
    Wir schritten in Primaveras Ereignishorizont hinein.

11
Psychische Chirurgie
    Die Nekropole schien (wie immer) grenzenlos, erstreckte sich weiter, als das Auge reichte, jenseits aller Hoffnung, jenseits der Welt; eine Todessingularität, bei der die Krümmung der Raumzeit unendlich war. Ewig. Wo war unsere Kutsche? Wo waren unsere Pferde? Es war kalt; ich konnte mich nicht erinnern, dass es jemals so kalt gewesen war; Bodennebel heftete sich uns an die Fersen, kroch uns unter die Kleider. Kein Vergnügen, dieser Ausflug!
    »Primavera?«, rief ich und half Morgenstern auf die Füße. Gleich einer surrealen Fotomontage überlagerten einige Londoner Gebäude die vertraute Ödnis, gestrandet zwischen steinernen Endstationen des Lebens. Primavera lief direkt auf sie zu.
    »Grosvenor Square«, sagte Morgenstern, während wir uns einen Weg an den Grabsteinen vorbei suchten, um mit Primavera Schritt zu halten. Als wir sie einholten und die Grenze zwischen Nekropole und Platz, die von einem Schotterstreifen markiert war, überschritten, hob sich der Nebel, und wir wateten durch ein Meer aus Gras, um uns herum pseudogregorianische Terrassen und die Ruinen der amerikanischen Botschaft. Mitten in der Nacht leuchtete das einzige helle Fenster wie ein Signalfeuer in einem einsamen Turm. Der Küster dieser Welt des Todes war zu Hause.
    Die Tür war offen.
    »Doktor?«, rief Primavera. Überall herrschte Dunkelheit, die Möbel waren in weiße Laken gehüllt; durch die Decke drang Klaviermusik zu uns herab. Nachdem wir zwei Stockwerke hinaufgestiegen waren, bemerkten wir unter einer Tür einen Lichtstreifen. Primavera klopfte gegen das Holz. »Doktor? Dr. Toxicophilous? Ich bin es, Primavera.« Die Musik brach ab.
    »Herein.« Es war die Stimme eines alten, kranken, atemlosen Mannes. Als wir eintraten, saß er vor einem offenen Feuer. In einen Morgenrock mit Paisleymuster gehüllt und gegen ein Himmelbett gelehnt, hielt er eine Uhrwerkpuppe im Schoß, die er, von unserer Anwesenheit nicht im Mindesten beeindruckt, langsam und methodisch aufzog. Dann stellte er die Puppe ‒ das Modell einer jungen Frau, die an einem Klavier saß ‒ vor sich auf den Boden, und die Musik spielte wieder. »Greensleeves. My Lady Greensleeves. Ich war immer der Meinung, das müsste unsere Nationalhymne sein. Grün. Sprießend. Englisch. Gott schütze die Königin? Ah, bald wird es eine neue Königin geben. Und wir werden auf Schutz angewiesen sein, Gott verfluche sie!«
    Automaten bedeckten den Boden. Primavera räumte sich einen Platz frei und setzte sich neben Dr. Toxicophilous, mitten unter ihre Vorgängerinnen aus dem neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Ich atmete durch den Mund. Der Kampfergeruch war entsetzlich.
    »Phalibois hat sie gebaut«, erklärte Toxicophilous und streichelte die Pferdehaarlocken der kleinen Musikantin. »In jenem Goldenen Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg. Dem Goldenen Zeitalter der Automaten. Alle hier« ‒ er wies auf das halbe Dutzend Spielsachen zu seinen Füßen ‒ »stammen aus dem Marais-Distrikt in Paris. Ich habe auch einmal in Paris gearbeitet ...«
    »Doktor«, sagte Primavera, »ich brauche Ihre Hilfe.« Toxicophilous rieb sich keuchend die Brust.
    »Arme Puppe. Ich weiß, dein Uhrwerk ist kaputt; ich habe gespürt, wie es passierte.« Seine Augen wurden feucht. »Es hat mir das Herz gebrochen.« Primavera wiederum hatte die Augen weit aufgerissen und grinste schief. »Erst der Crash. Ah, wie viele wurden dabei ruiniert! Dann die nachgebauten Puppen. Den Leuten gefielen sie. Sie waren billig. Vulgär. Aber sie boten Sex! Dann die Seuche. Was für ein Albtraum!«
    »Aber ich habe das Träumen satt, Doktor«, erwiderte Primavera. »Ich möchte aufwachen. Ich möchte wieder in der realen Welt leben.«
    »Wir möchten hier raus«, sagte Morgenstern, der noch immer in der Tür stand. »Verstehen Sie? Eine Lilim hält uns in ihrem Programm gefangen.«
    »Tick-tack, tick-tack.« Toxicophilous legte Primavera eine Hand auf den Bauch. »Wir Nanoingenieure sind in Vielem wie Uhrmacher. Halbleitertechnologie war auf Elektronik angewiesen; wir dagegen verwenden bewegliche Teile. Rädchen, deren Zähne so klein wie Atome sind; Lager, die

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