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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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finden euch, nehmen euch zu mir, geben euch falsche Papier, Unterkunft ...«
    »Ja ja«, fiel ich ihr ins Wort, »mir platzt vor Dankbarkeit gleich das Herz.« Aber sie hatte recht: Wenn Madame K nicht gewesen wäre, wären wir deportiert worden. Konnte ich diese Frau, die so viele Freunde hatte wie ein räudiger, dreibeiniger Hund, wirklich am Straßenrand zurücklassen? Natürlich konnte ich das.
    »Jinx«, sagte ich. »Jinx hat Ihnen von dem ›Vampir der Slums‹ erzählt, habe ich recht? Hat nicht er Sie überredet, uns zu helfen?«
    »Scheißen auf Jinx! Ich helfen euch jetzt ...«
    »Sie haben uns noch nie geholfen! Jinx hat für Jack Morgenstern gearbeitet. Wir haben alle für Jack Morgenstern gearbeitet. Und das schon seit Jahren!«
    »Wenn ich sagen helfen, ich meinen helfen, Mr. Ignatz.«
    »Madame, erzählen Sie keinen Unsinn!«, sagte Primavera.
    »Ihr glauben, ihr sein reich? Woher ihr kriegen Geld? Madame kann besorgen Geld. Madame haben Freund.«
    »Sie will uns bloß verarschen, Iggy.«
    »In Khorat. Madame haben Freund in Khorat. Alte Freund.«
    Es war nur schwer vorstellbar, irgendjemand könnte mit Kito befreundet sein, wenn nicht aus Angst oder Habgier. Aber diese Empfindungen konnte sie nun nicht mehr wecken. Die Nachricht von ihrem Sturz verbreitete sich bestimmt schon im Netz. Allerdings waren unsere Möglichkeiten äußerst eingeschränkt, wenn wir über die Grenze gelangen wollten. Außer schwerem Diebstahl fiel mir nichts ein, was uns weiterhelfen würde, und ohne eine Primavera in Hochform wäre das ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.
    »Dieser Freund ...«
    »Können du vertrauen, Mr. Ignatz.« Ihre Stimme klang jetzt wieder selbstbewusster; sie ahnte, in was für einer misslichen Lage wir uns befanden.
    »Madame«, erklärte Primavera, »ich habe doch gesagt, dass wir Ihnen nicht trauen.«
    »Primavera, uns geht bald das H aus.« Wenn der SiL nur mit künstlichem Kraftstoff laufen würde!, dachte ich bei mir. Diese großen importierten Wagen mit ihren abgefahrenen Ansprüchen konnten einem wirklich auf den Sack gehen. Um an H ranzukommen, brauchte man eine Menge Baht.
    »Mein Freund sehr reich. Nummer eins in Seidenraupenzucht.«
    »Warum sollte er Ihnen dann helfen?«, fragte ich.
    Kito lächelte verkniffen: Verbitterung und Freude hielten sich in ihrer Miene die Waage. »Ihr nicht verstehen. Ihr glauben, Kito Hexe ohne Gefühle. Ihr glauben, sie können nicht lieben.« Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Was ihr schon wissen? Ihr Kinder. Kinder, aber glauben, sie kennen Welt. Ich wissen, dass Freund helfen. Ah, mein Freund. Er große amour .«
    »Was?«, fragte Primavera.
    » Amour! «, erwiderte Kito. »Er meine große Liebe. Mosquito ist mon amour .«
    Im Seven Stars gab es einen Korridor, der, wie man uns erzählt hatte, über hundert Kilometer lang war. Jo hatte uns fast einen ganzen Tag lang hindurchgeführt. Da der Gang zu schmal war für ein Auto (so erklärte uns Jo, und außerdem waren wir zu nahe an der Oberfläche und durften nicht riskieren, gehört zu werden), mussten wir Rad fahren. Primavera und ich hatten uns ein Tandem genommen, Jo ein leichtes Rennrad. Unsere Lampen erforschten die Finsternis, gelangten aber bald an ihre Grenzen. Jo sagte, sie wäre geflogen, wenn diese Fähigkeit nicht so neu für sie wäre. Uns beide zusammen hätte sie nicht hochheben können. »Puppen bringen nicht oft irgendwelche Jungs mit«, sagte sie schnippisch.
    Wir hielten an, um etwas zu essen. Ich knabberte an einem Apfel und etwas Käse, die Mädchen aßen mit Blut gefüllte Pralinen. Alsbald begann Jo, mit Primavera ihren Katechismus durchzugehen.
    »Wer ist Lilith?«, fragte Jo.
    Gute Frage, dachte ich bei mir ‒ wer ist sie, dass alle Puppen ihr Loblied singen? Sinn. Stolz. Rache. All diese Dinge bedeutete sie für Primavera. Während unseres zwei Monate währenden Aufenthalts im Seven Stars war sie ausgiebig indoktriniert worden ...
    Oft schlenderten wir Arm in Arm durch das sensorische Chaos des Palasts, als befänden wir uns in den Flitterwochen, dunkle Gänge entlang, die in Zykloramen mündeten oder in unechte Zimmer, in Treppenfluchten, die nirgendwohin führten. Primavera erläuterte mir Titanias Philosophie, während ich mich schweigend an dem grünlichen Saft labte, der meinem kleinen Plappermaul aus den Augen rann. Sie war glücklich. Nicht wie ein Mensch. Das würde sie nie sein. Ihre Zukunft hielt anderes für sie bereit: Der Trost, der ihr blieb und den sie

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